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Niederländisches Naturprojekt: Wildnis ist kein Streichelzoo

In Oostvaarderplassen, dem bekanntesten Naturschutzprojekt der Niederlande, sind im Winter mehr als 1000 Pferde und Hirsche verhungert. Zuwandernde Wölfe könnten ein wichtiger Faktor sein, um das Projekt zu retten. Echte Wildnis wird es aber nur ohne Zäune geben.
Hirsche im Abendlicht in Oostvaarderplassen

Die Fotos, die im Winter und Frühling 2018 aus dem niederländischen Großschutzgebiet Oostvaarderplassen um die Welt gingen, sind nichts für schwache Nerven. In einer kargen, baumlosen Landschaft stehen ein paar Rinder, die so abgemagert sind, dass Hüften und Rippen überdeutlich hervortreten. Pferde mit struppigem Fell, die nur noch aus Haut und Knochen bestehen – und immer wieder tote Tiere: ein verendeter Hirsch am Wasser, ein Pferdekadaver, der genauso trist aussieht wie die karge Landschaft ringsum. Ein totes Rind, merkwürdig verdreht, mit aufgerissener Bauchdecke, so dass die blanken Knochen zu sehen sind.

Würden die Tiere einem Bauern gehören, hätte der längst etliche Klagen wegen Tierquälerei am Hals und dürfte seinen Beruf nicht mehr ausüben. Würden die Tiere wild und frei im Wald leben und in einem harten Winter an Hunger und Kälte sterben, würde der Aufschrei allein schon deshalb ausbleiben, weil die Tiere irgendwo im unwegsamen Gelände unbemerkt verendet wären.

Toter Hirsch | Der Winter 2017/18 forderte seinen Tribut von den Säugetieren in Oostvaarderplassen. Viele verhungerten, andere mussten wegen Nahrungsmangel erschossen werden – was die Bevölkerung erzürnte.

Die Rinder, Pferde und Hirsche, um die es hier geht, sind aber sehr öffentlich gestorben: Das Gebiet, in dem sie lebten, ist in weiten Teilen flach und baumfrei und gut einsehbar. Und wenn in einem der größten und ambitioniertesten Naturschutzgebiete im Land die Tiere zu Hunderten an Hunger krepieren, wird die Sache schnell politisch. Tierschützer gingen auf die Barrikaden und warfen Heuballen für die abgemagerten Tiere über den Zaun. Es gab Unterstützung von prominenten Niederländern wie der Olympiasiegerin im Dressurreiten Anky van Grunsven – und unpassende Vergleiche des Naturschutzprojekts mit einem Tier-KZ. Im April 2018 zog die Regionalregierung der Provinz Flevoland die Reißleine. Bis auf Weiteres wird für die großen Weidetiere eine Obergrenze von 1500 Stück festgelegt. Außerdem sollen neue Wald- und Sumpfgebiete geschaffen werden, in denen die Tiere in Zukunft mehr Schutz und Deckung finden können.

Wohin führt der Weg?

In Oostvaarderplassen haben die Menschen die Natur jahrzehntelang ihr Ding machen lassen. Ohne menschliche Einflussnahme konnten sich die Tiere innerhalb des Zauns frei bewegen, sich mit anderen zusammenschließen, ihre Stellung in der Gruppe auskämpfen und Nachwuchs bekommen. Das Ganze war kein Selbstzweck, sondern diente einem höheren Ziel: Teile der Provinz Flevoland waren erst in den 1960er Jahren mühsam dem Meer abgerungen worden. Oostvaarderplassen ist der Teil des Landes, der nicht dauerhaft trocken zu kriegen war und deshalb am Ende der Natur überlassen wurde. 1986 wurde das Gebiet unter Schutz gestellt und 1989 in die Liste der bedeutenden Feuchtgebiete aufgenommen. Viele seltene Vogelarten konnten in dem Marschland Nahrung finden. Um den offenen Charakter der Landschaft zu erhalten, wurde 1992 damit begonnen, die Fläche einzuzäunen und Heckrinder, Konikpferde und Rothirsche darin frei zu lassen.

Ohne menschlichen Einfluss waren die Tiere allerdings auch den Launen der Natur ausgeliefert: Eine Reihe fetter Jahre mit milden Wintern, und die Tiere vermehrten sich derart stark, dass sie das Gras so kurz fraßen, dass für die seltenen Vögel nichts mehr übrig blieb. Ein harscher Winter hat ebenfalls drastische Auswirkungen: Zu wenig Nahrung für zu viele Tiere bedeutet viele Hungertote – wie 2018. Von 5230 Tieren, die im Herbst dort lebten, haben 3380 den Winter nicht überstanden. Die meisten von ihnen wurden erschossen, um sie vor weiteren Qualen zu bewahren.

Mit den vielen toten Tieren scheint auch das Naturschutzkonzept von Oostvaarderplassen als Ganzes zu Grabe getragen zu werden, der Traum von einer sich selbst regulierenden Wildnis ausgeträumt zu sein. Dass man in den kommenden Jahren der Natur wieder gänzlich freien Lauf lässt, ist jedenfalls ausgeschlossen. Deshalb stellt sich die Frage, welche Lehren aus dem Rückschlag gezogen werden, welche Neujustierungen das Projekt vielleicht sogar noch retten könnten.

Große Pflanzenfresser | Hirsche, Pferde und Rinder sollen das Gebiet von Oostvaarderplassen von Wald frei halten. Damit soll das sumpfige Gelände ein Biotop für verschiedene Vogelarten bleiben.

Der Versuchsaufbau in Oostvaarderplassen basierte auf der Annahme, dass in Europa vor allem deshalb überall in kurzer Zeit dichter Wald entsteht, weil es nicht genügend große Pflanzenfresser gibt, die das verhindern. Mammuts, Auerochsen und Wildpferde sind schon vor langer Zeit ausgestorben oder ausgerottet worden. Bringt man wieder genügend Pflanzenfresser in ein Gebiet, entwickelt sich dort kein geschlossener Wald, sondern mit der Zeit eine halb offene park- und savannenähnliche Landschaft.

Es fehlen die Fleischfresser

Die großen Weidetiere sollen also einen natürlichen Prozess auslösen, der seit Jahrhunderten nicht mehr stattfinden kann. In Oostvaarderplassen fehlte der Gleichung jedoch eine entscheidende Komponente: Raubtiere. Neben den Pflanzenfressern sind auch große Beutegreifer wie Wolf, Bär und Luchs in weiten Teilen Westeuropas seit Jahrhunderten ausgerottet. Ein Wolf benötigt jeden Tag bis zu vier Kilogramm Fleisch. Aufs Jahr hochgerechnet entspricht das ungefähr 60 Rehen oder 16 Rothirschen. Ein Wolfsrudel in Oostvaarderplassen könnte die Zahl der Weidetiere demnach tatsächlich dezimieren.

Zu dem direkten Einfluss auf die Weidetiere durch Risse käme noch ein indirekter: Die Anwesenheit von Wölfen beeinflusst das Verhalten der Pflanzenfresser. Sie würden schreckhafter werden und sich allgemein vorsichtiger verhalten, sie müssten die Umgebung häufiger nach Feinden absuchen und hätten so weniger Zeit zum Fressen. Vielleicht würden sie auch bestimmte Regionen meiden, wenn dort das Risiko einer Wolfsattacke besonders groß wäre. Dieser Effekt, der durch die Raubtiere ausgelöst werden kann, wird auch als »Ökologie der Angst« bezeichnet.

Als Beispiel für den großen Einfluss der Raubtiere wird oft der Yellowstone-Nationalpark genannt. Nach der Wiedereinführung der Wölfe in den 1990er Jahren ging die Zahl der bevorzugten Beutetiere – Wapitihirsche – tatsächlich stark zurück. Verschiedene Pflanzenarten, die zuvor massiv von den Hirschen verbissen worden waren, erholten sich wieder, was mit den Wölfen zusammenhängen soll. Das dortige Ökosystem ist aber zu komplex, als dass man mit Sicherheit sagen kann, wie groß der Einfluss der Wölfe tatsächlich ist.

Der niederländische Ökologe Ronald Goderie kann sich durchaus vorstellen, dass sich die Situation in Oostvaarderplassen durch die Ankunft von Wölfen verbessern ließe. »In den vergangenen Jahren wurden bereits verschiedentlich Wölfe in der Nähe des Schutzgebiets gesichtet. Wenn die sich dort niederlassen, hätte das mit Sicherheit positive Auswirkungen auf das Projekt«, sagt Goderie. In Zeiten der größten Krise hat er eine positive Zukunftsvision für das Naturschutzprojekt in der Nähe von Amsterdam entworfen: Seiner Überzeugung nach könnte daraus ein Nationalpark entstehen, in dem Besucher Rothirsche, Pferde, Rinder, Wisente und Wölfe unter natürlichen Bedingungen beobachten. Allerdings weiß Goderie selbst, dass solche Ideen in der aufgeheizten Stimmung, die gerade herrscht, wenig Aussicht auf Erfolg haben.

Keine Freiheit hinter dem Zaun

Und wesentliche Probleme würden trotzdem bestehen bleiben: Ein Zaun bleibt ein Zaun – eine künstliche Barriere, die eine völlig natürliche Entwicklung des Gebiets verhindert. In der Natur könnten immer wieder Tiere abwandern, wenn die Population wächst. Doch selbst wenn das Gebiet erheblich vergrößert würde – Pläne dafür gibt es trotz der anhaltenden Krise –, würde die Ausbreitungsdynamik früher oder später an einem Zaun enden. Für die Wölfe könnte man den Zaun zwar durchlässig machen. Aber es ist mehr als fraglich, ob Landwirte und Politik in der Region es gutheißen würden, wenn Oostvaarderplassen immer wieder junge Wölfe kultiviert, die danach ins Umland drängen.

Pferde und Vögel | Der Artenreichtum in Oostvaarderplassen ist sehr hoch, weil hier viele verschiedene Ökosystemtypen nebeneinander vorkommen. Da große Fleischfresser wie Wölfe aber fehlen, konnten sich die Tiere stark vermehren – die Bestandskontrolle fand dann durch Seuchen und Hunger statt.

Ronald Goderie arbeitet deshalb selbst seit Jahren an seiner eigenen Idee von Wildnis. Er ist Schatzmeister der Stiftung Tauros, die dabei ist, ein sehr strapazierfähiges Rind zu züchten, das später ausgewildert werden und in der Natur den Auerochsen ersetzen soll. In verschiedenen Zuchtgruppen in ganz Europa gibt es mittlerweile schon rund 700 Tauros-Rinder in unterschiedlichen Entwicklungsstadien. Die Tiere sind groß und langbeinig und haben große Hörner. Echte Auerochsen seien es trotz der Ähnlichkeiten natürlich nicht, meint Goderie. »Das geht nicht, und das wollen wir auch nicht. Wir wollen ein Tier züchten, das dem Auerochsen genetisch ähnlich ist und ähnlich gut in der Natur zurechtkommt.«

Einige Tiere des Zuchtprojekts gehören bereits zur vierten Generation. Noch vier weitere Generationen in den nächsten 15 bis 20 Jahren, und die Tauros-Rinder sind so weit, dass sie ausgewildert werden können. Im dicht besiedelten Westeuropa würde Goderie dann auf die gleichen Probleme stoßen, die derzeit in Oostvaarderplassen bestehen. Die Wildnis, in denen die Rinder leben, wäre eine Wildnis hinterm Zaun. Wenn man Massenvermehrungen und Massensterben verhindern wollte, müsste man regelmäßig regulierend in den Bestand eingreifen.

Aus diesem Grund verfolgt Goderie mit seinem Kooperationspartner »Rewilding Europe« einen anderen Plan: »Wir suchen nach großen zusammenhängenden Landschaften, in denen wir die Tauros-Rinder auch ohne Zaun frei lassen können«, sagt er. Solche Landschaften finden sich eher in Nord- oder Osteuropa. Im kroatischen Velebit zum Beispiel – einer der derzeit acht Rewilding-Regionen in Europa – leben derzeit die vielversprechendsten Zuchttiere. Insgesamt rund 100 Rinder. Möglicherweise könnte die Region im nördlichen Kroatien die erste mit frei lebenden Tauros-Rindern werden. Dort hätten die Tiere die Möglichkeit, ungebunden umherzustreifen, müssten sich allerdings auch mit Wölfen und Bären herumschlagen. Das wäre dann echte Wildnis ohne menschlichen Einfluss, wie sie viele große Naturschutzprojekte anstreben.

Damit die großen Pflanzenfresser in Zukunft tatsächlich wieder durch unbegrenzte Landschaften ziehen können, muss das bestehende EU-Recht geändert werden: Bislang ist darin einfach nicht vorgesehen, dass von Menschen gezüchtete Tiere in die Natur entlassen werden. Zumindest wenn es Haustiere sind. Die müssen Ohrmarken tragen, registriert sein, regelmäßig untersucht werden. Aber was, wenn sich wie beim Tauros-Rind das Tier vom Haustier in Richtung Wildtier verändert? Am Anfang der Zucht standen verschiedene widerstandsfähige Haustierrassen. Ziel des Projekts ist jedoch ein Wildrind, das in der Natur bestehen kann. Irgendwann muss beim Tauros-Rind also der rechtliche Status geändert werden. In Ausnahmefällen ist das schon möglich: Die Heckrinder und Koniks in Oostvaarderplassen waren ja auch »Haustiere«, die sich ohne Ohrmarken und tierärztliche Untersuchungen frei bewegen konnten – allerdings nur innerhalb des abgesteckten Zauns.

Bei anderen Arten gibt es bereits zaghafte Experimente mit der richtigen Freiheit. Im Rothaargebirge wurden vor fünf Jahren ein paar Wisente im Privatwald frei gelassen. Die Herde ist inzwischen auf 20 Tiere angewachsen. Nach Klagen von mehreren Waldbesitzern, weil die Wisente die Rinde von Bäumen schälen, steht die Zukunft des Projekts derzeit jedoch auf der Kippe.

Im westlichen Polen, gerade mal 100 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, lebt ebenfalls seit einigen Jahren eine Herde frei lebender Wisente. Wie schwer sich die Gesellschaft zumindest bei uns noch immer mit großen Pflanzenfressern in der Natur tut, hat sich im September 2017 in Lebus gezeigt. Ein Wisentbulle aus Westpolen hatte sich auf Wanderschaft begeben, war durch die Oder geschwommen und anschließend auf deutscher Seite auf dem Deich entlangspaziert – der erste frei lebende Wisent seit rund 250 Jahren in Deutschland. Wenige Stunden später war der Bulle tot. Er wurde erschossen, weil das Lebuser Ordnungsamt das Tier als potenzielle Bedrohung angesehen hatte.

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