Williams-Beuren-Syndrom: Wortgewandte Elfenkinder
Von Anfang an war Lukas spät dran. 1995 fing er mit zehn Monaten an zu krabbeln. Die ersten Schritte wagte er mit 20 Monaten. Zu dieser Zeit begann er auch damit, erste Wörter von sich zu geben, hörte aber dann wieder auf zu sprechen. Seine Mutter, Christina Leber, beunruhigten die Verzögerungen. Doch ihre Kinderärztin winkte damals ab. Alles sei noch im Rahmen.
Als Leber ihren knapp dreijährigen Sohn 1997 einem Test zum Stand der Entwicklung unterzieht, ist er bereits ein Jahr hinter seinen Altersgenossen zurück. »Daraufhin begann für uns ein regelrechter Diagnosemarathon«, schildert die Mutter. Der führt die junge Familie schließlich zu einer Humangenetikerin. Sie schaut Lukas an und hat sogleich einen Verdacht: Williams-Beuren-Syndrom (WBS).
Kinder mit dieser seltenen genetischen Erkrankung werden manchmal auch als »Elfenkinder« bezeichnet, weil ihr Gesicht oft eine charakteristische Form aufweist. Ihr Kopf ist etwas kleiner, mit breiter Stirn und meist lockigen und wolligen Haaren. Die Wangenknochen stehen ein wenig vor, so dass sie runde Pausbäckchen haben. Eine Stupsnase und volle Lippen sind ebenfalls typisch. 80 bis 90 Prozent der Betroffenen haben allerdings einen Herzfehler. Und so sieht sich die Genetikerin auf der richtigen Fährte, als sie beim Abhören ein leichtes Herzgeräusch bei Lukas hört. Ein Bluttest bringt dann Gewissheit: Auf einem der beiden Chromosomen 7 des Jungen fehlt ein kleiner Genabschnitt, der etwa 25 bis 28 Gene umfasst. Diese Verkürzung ruft das WBS hervor. Unter anderem hat Lukas nur eines von zwei Elastin-Genen. Dort steckt die Bauanleitung für ein Strukturprotein, das Haut und Blutgefäßen ihre Dehnungsfähigkeit verleiht. Seine Haut erscheint deshalb besonders straff.
Angeboren, aber selten vererbt
Kinder mit WBS entwickeln sich kognitiv und motorisch langsamer als solche ohne die Erbgutveränderung. Ihr Gehirn ist von Geburt an ein wenig kleiner, und die meisten zeigen eine leichte bis mittlere Intelligenzminderung. Das Syndrom, das erstmals in den 1960er Jahren vom deutschen Kinderkardiologen Alois Beuren und seinem neuseeländischen Kollegen John Williams beschrieben wurde, ist keine Erbkrankheit im engeren Sinn. Es tritt häufig spontan bei der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle auf, also ohne dass einer der Elternteile eine entsprechende Veranlagung haben muss. Betroffene können es jedoch durchaus selbst an ihre Nachkommen weitergeben.
Für die meisten Familien ist es eine Erleichterung, wenn sie mit der Diagnose ein greifbares Wort für die Eigenarten ihres Kindes bekommen, berichtet Elke Reutershahn von den Helioskliniken in Duisburg. Ihre Ambulanz hat sich auf das Syndrom spezialisiert. Viele Eltern plagt dann aber eine neue Sorge: die um die Zukunft. »Was wird aus meinem Kind?« und »Was braucht es, um sich optimal zu entwickeln?« sind dabei die beiden drängendsten Fragen.
Die meisten Menschen mit Williams-Beuren-Syndrom leiden unter angeborenen Herzproblemen
In der Ambulanz sei »der Andrang kaum noch zu bewältigen«, erzählt Reutershahn. WBS ist mit maximal einem Fall pro 7500 Personen zwar rar. Doch Angehörige sind froh, wenn sie hier zu Lande Fachleute wie sie finden, denen sie die damit einhergehenden Probleme nicht erklären müssen. »Viele Mediziner kennen das seltene Leiden nicht; man muss sie dann erst einmal selbst darüber informieren«, so Christina Lebers Erfahrung.
Hinzu kommt: Wie sich der Gendefekt äußert, kann von einer Person zur nächsten erheblich variieren. »Deshalb muss jeder Fall einzeln angeschaut werden«, erklärt Reutershahn. Auffällige Beschwerden, die bei den meisten Betroffenen auftreten, sind die angeborenen Probleme mit dem Herzen. Oft wird das Syndrom erst darüber entdeckt. Ein Teil der Patientinnen und Patienten braucht daraufhin eine OP. Manche haben schon in jungen Jahren Bluthochdruck, zahlreiche weitere entwickeln ihn später. Sie leiden dann gelegentlich unter Schwindel, Übelkeit und Herzrasen. »Lukas' Herzfehler, eine supravalvuläre Aortenstenose, hat sich glücklicherweise in der Pubertät herausgewachsen«, berichtet Leber. Die Hauptschlagader an seinem Herzen war zunächst verengt, und sein Körper wurde deshalb lange nur eingeschränkt mit sauerstoffreichem Blut versorgt. »Bluthochdruck hatte er bisher allenfalls kurzzeitig, zum Glück«, fügt sie hinzu.
Spätes Sprachtalent
Die ebenfalls häufig auftretende Intelligenzminderung fällt nicht unbedingt gleich auf. Denn Kinder mit WBS können, sobald sich ihre sprachlichen Fertigkeiten trotz der typischen Verzögerung entfaltet haben, mitunter recht wortgewandt sein. Zum Teil nutzen sie ungewöhnliche Formulierungen, die über Defizite hinwegtäuschen. »Das ist ja phänomenal!« – den Ausdruck nennt der Linguist Tom Lynker von der Universität Gießen als Beispiel. Einen der bedeutendsten Beiträge zur Erforschung des Syndroms leistete Ursula Bellugi, die am kalifornischen Salk Institute in La Jolla arbeitete und 2022 verstarb. Sie entwickelte um die Jahrtausendwende eine These zu dieser Besonderheit. Bellugi postulierte, die Sprache würde sich bei dem Syndrom fast inselartig und losgelöst von anderen kognitiven Fertigkeiten entwickeln.
Lynker ist da skeptisch und vermutet, dass der Prozess in Wahrheit komplizierter ist. Momentan untersucht der Linguist den Spracherwerb bei Heranwachsenden mit WBS. »Die Kinder lassen für ihr Alter auffällig häufig Silben oder Laute aus, ersetzen oder vertauschen sie«, schildert er seine Beobachtungen. Er will genauer analysieren, wie sich ihre sprachliche Reifung vollzieht – und vor allem, was die so genannten Entwicklungssprints begünstigt. In solchen Phasen holen die Kinder besonders stark auf.
»Eltern sollten ihre Kinder auch dort fördern, wo sie gut sind und Freude haben«Elke Reutershahn, Kinderärztin
Eine weitere Eigenart von Personen mit WBS betrifft die auditorische Verarbeitung: Nahezu alle von ihnen reagieren sehr empfindlich auf laute Geräusche. Lynker will herausfinden, ob diese Lärmsensibilität den Spracherwerb beeinflusst. 53 Familien mit Betroffenen im Alter von 2 bis 18 Jahren hat er für seine Erhebung schon gewinnen können. »Für eine seltene Erkrankung ist das viel«, betont er. Er hofft, den Eltern mit den aus der Forschung gewonnenen Erkenntnissen Empfehlungen geben zu können, wie sie ihr Kind optimal fördern. Denn das ist die Frage, mit der Familien sich häufig an ihn wenden.
Besondere Fähigkeiten täuschen über Einschränkungen hinweg
Trotz syndromspezifischer Defizite hat jedes Kind mit WBS ein eigenes komplexes Entwicklungspotenzial. Wichtig ist, Betroffene individuell zu betrachten, mit ihren einzigartigen Lernschwächen und -stärken, Vorlieben und Abneigungen. Sprachlich und musikalisch sind viele von ihnen sogar besonders begabt. Der eine oder andere kann sich in mehreren Sprachen fließend unterhalten, und nicht wenige spielen ein Instrument. Einige lernen, Melodien nur nach Gehör zu imitieren, ohne je Noten lesen zu können. Christina Leber, die sich im Bundesverband Williams-Beuren-Syndrom engagiert, erzählt: »Wenn wir im Bus mit den Kindern unterwegs sind und der Fahrer Musik anmacht, wippt der ganze Bus und alle klatschen mit.« Elke Reutershahn sieht hier einen guten Ansatzpunkt für die Bezugspersonen. »Eltern sollten ihre Kinder auch dort fördern, wo sie gut sind und Freude haben«, rät sie. Das würde ihnen dabei helfen, ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln.
Die meisten Betroffenen brauchen ein Leben lang Unterstützung und Förderung
Ihre herausragenden Fähigkeiten erwecken gelegentlich einen falschen Eindruck davon, wie viel Hilfe die Patienten und Patientinnen im Alltag benötigen. »Die meisten Betroffenen brauchen ein Leben lang zusätzliche Förderung und können nicht selbstständig leben«, betont Reutershahn. Mit gezielten Maßnahmen lässt sich ihre Entwicklung aber positiv beeinflussen. Damit kann man bereits in den ersten ein bis zwei Lebensjahren anfangen. In der Logopädie üben Kleinkinder mit WBS etwa, den Mund vollständig zu schließen. Vielen fällt das auf Grund der leicht vorverlagerten Zunge schwer. Eine Physiotherapie kann die Selbstwahrnehmung fördern und beim Sitzen- und Laufenlernen unterstützen. Da die Feinmotorik der betroffenen Kinder oft gering ausgeprägt ist und es ihnen schwerfällt, sich zu konzentrieren, wird beides gezielt in der Ergotherapie trainiert.
In manchen Bereichen tun sich Menschen mit WBS besonders schwer. Jede Form von Abstraktion ist für sie eine Herausforderung. Mathematik bleibt »für die allermeisten ein Buch mit sieben Siegeln«, weiß Reutershahn. Im Alltag führen diese Defizite vor allem dann zu Problemen, wenn der räumliche Orientierungssinn gefordert ist. Ihren Weg zur Schule oder zur Arbeit zu finden, ist für viele bereits eine hohe Hürde. »Sie können die visuellen Informationen nicht adäquat mit ihrer eigenen Position verknüpfen«, erläutert Ingolf Prosetzky, Sozialwissenschaftler an der Hochschule Zittau/Görlitz. Das gehe so weit, dass manche nicht wüssten, welche Schublade sie in der eigenen Küche öffnen müssten, um das Besteck zu holen.
Lukas sei schon als kleiner Junge immer wieder ausgebüxt, erinnert sich Christina Leber. Womöglich habe das dazu beigetragen, dass er einen vergleichsweise guten Orientierungssinn entwickelt hat. Dennoch konnte er sich den Weg zur Waldorfschule nur mit viel Übung merken. Da er im ländlichen Umfeld aufwuchs, kennt ihn jeder im Dorf. Als ihm Arbeit im eine halbe Stunde entfernten Hessenpark angeboten wird, überwiegt aber die Angst: Die Stelle ist ihm zu weit weg von der vertrauten sozialen und geografischen Umgebung.
Aufholbedarf in der Forschung
Im Wissen um das WBS klaffen noch große Lücken. Lange Zeit hätten Fachleute sich auf die Beschreibung der Genetik und den Spracherwerb fokussiert, bedauert Ingolf Prosetzky. Generell ringe die kleine Gemeinde an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern um Gelder zur Erforschung des seltenen Leidens. Der Sozialwissenschaftler initiierte 2017 eine Befragung unter Eltern, deren erste Ergebnisse er im Juni 2024 auf einem Kongress vorstellte. Dabei erkundigte er sich, welche Themen ihnen ein besonderes Anliegen sind. Tatsächlich bedrückt die meisten, was im deutschsprachigen Raum noch nicht einmal Gegenstand von Studien war, nämlich dass ihre Kinder praktisch keine festen Bindungen aufbauen. Wegen ihrer Gesprächigkeit kommen viele zwar leicht mit Fremden in Kontakt. Doch andauernde, stabile Sozialkontakte zu knüpfen gelingt nur den wenigsten. Und ihre Offenheit hat eine Schattenseite: Menschen mit WBS geraten eher als andere in riskante Situationen, in denen sie vom Gegenüber emotional, finanziell oder körperlich ausgenutzt werden. Sehr wertvoll findet Prosetzky diesbezüglich einige Studien aus dem Ausland. Besonders verdient gemacht hat sich hier Marisa Fisher, eine Psychologin an der Michigan State University, deren Bruder selbst WBS hat. Sie hat unterschiedliche Trainingsprogramme erprobt, um den Betroffenen mehr Distanz gegenüber Fremden zu vermitteln und ihre Sozialkontakte zu stärken.
Zuletzt testete Fisher mit 24 jungen Probanden und Probandinnen mit WBS ein psychoedukatives Programm. Das Training lief über acht Wochen, zweimal wöchentlich je 90 Minuten. Zu Beginn mussten die Testpersonen ihre sozialen Beziehungen in zwei Kategorien einteilen: enge Freunde oder entfernte Bekannte. Dann erhielten sie Informationen dazu, wie sie sich den Menschen gegenüber verhalten sollten – je nachdem, in welchem »sozialen Kreis« sich ihr Gesprächspartner befand. Persönliche Dinge sollten sie etwa nur mit ihren engsten Freunden besprechen. In einer Sitzung übten sie das Zuhören und Befragen des Gegenübers, um den Bindungsaufbau zu fördern. Am Ende wollte Fisher von den Eltern der Betroffenen wissen, für wie hilfreich sie das Programm hielten. Sie beurteilten es im Schnitt als sehr gut und bescheinigten, dass die Sozialkompetenz ihrer Kinder gewachsen war.
Noch erfolgreicher war ein Training mit Schauspielerinnen und Schauspielern. Diese stellten typische Lockversuche nach, die darauf abzielten, die angesprochene Person auszunutzen. Nachdem die Situationen gemeinsam besprochen wurden, fielen deutlich weniger WBS-Patienten und -Patientinnen auf solche Täuschungsmanöver herein. Statt 14 Prozent wie vor dem Programm widerstanden hinterher 62 Prozent der Aufforderung, mit dem Gegenüber mitzugehen. Ein derartiges Training lässt sich allerdings wegen des Personalaufwands nicht ohne Weiteres als breites Förderangebot ausrollen.
»Man kann viel erreichen, wenn man die Stärken der Betroffenen und ihre individuellen Interessen in die Lernprozesse einbezieht«Ingolf Prosetzky, Inklusionsforscher
Ähnlich praxisrelevant ist die Forschung der Entwicklungspsychologin Emily Farran von der britischen University of Surrey. Sie ließ jeweils 20 Menschen mit WBS, 20 mit moderater Lernbeeinträchtigung und 20 ohne kognitive Beeinträchtigung eine Route von einem Kilometer auf einem Universitätscampus ablaufen. 20-mal mussten die Testpersonen dabei eine Abzweigung nehmen. Zunächst erhielten sie nur eine neutrale Wegbeschreibung mit Richtungsanweisungen. Ein Mitglied des Forschungsteams begleitete die Probandinnen und Probanden bei ihrem Rundgang. Jene mit WBS hatten insgesamt große Probleme, sich zurechtzufinden, hielt Farran 2010 in einem Fachartikel fest. Fügte man der Beschreibung jedoch typische Merkmale entlang des Wegs hinzu – etwa »hinter dem Fischteich geht es nach rechts« –, konnten sie sich deutlich besser orientieren.
Ingolf Prosetzky ist überzeugt: »Man kann viel erreichen, wenn man die Stärken der Betroffenen und ihre individuellen Interessen in die Lernprozesse einbezieht.« Er wünscht sich auch in Deutschland mehr Forschung dazu, wie das am besten gelingen kann. Das Wissen könnte dann in weitere Programme einfließen, die Menschen mit WBS helfen, ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen.
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