Pädagogik: "Wir brauchen einen Unterricht, der offen ist für die Vielfalt"
Mädchen lernen anders, Jungen auch - mit dieser Erkenntnis wurde in den letzten Jahrzehnten dafür plädiert, Kinder im Unterricht wieder nach Geschlechtern zu trennen. Doch diese Erkenntnis ist alles andere als gesichert.
spektrumdirekt: Herr Prof. Brügelmann, in den letzten Jahren wurde immer wieder darüber diskutiert, Jungen und Mädchen in manchen Fächern getrennt zu unterrichten, weil es die jeweilige Lernleistung fördere. Nun erschien in der "Science"-Ausgabe vom 22. September eine deutliche Abrechnung mit diesem Konzept. Die Forscher um Diane Halpern vom Claremont McKenna College in Kalifornien reden gar von "Pseudowissenschaft der Monoedukation". Überrascht Sie das?
Hans Brügelmann: Das überrascht mich nicht, denn es handelt sich in der Tat um ein sehr konfliktträchtiges Gebiet, in dem es um starke politische Interessen geht – ganz ähnlich wie bei früheren Angriffen auf Koedukation von Feministinnen oder aus den Kirchen.
Wie belastbar sind die neuen Forschungsergebnisse, die eine bessere Lernleistung bei getrenntem Unterricht postulieren?
Es ist forschungsmethodisch ungeheuer schwierig herauszufinden, welche Rollen einzelne Faktoren im sozialen Feld spielen. Wir haben kleine Untersuchungen, die sehr dicht sind, aber nicht repräsentativ. Und wir haben große Untersuchungen, die sich dann aber auf wenige Variablen beschränken müssen. Beispielsweise können unterschiedliche Wirkungen von Mono- und Koedukation daran liegen, dass es systematische Unterschiede zwischen den Familien gibt, die beide Schulformen wählen. Das ergibt natürlich eine Fülle von Befunden, von denen man sich dann die herauspicken kann, die gerade zur eigenen Ideologie passen. Insofern haben die Forscher völlig Recht: In dem Feld werden Befunde leicht überbewertet, und es wird so getan, als wisse man schon sehr viel, obwohl man im Grunde nur an der Oberfläche kratzt.
Und wie sieht es mit Ergebnissen aus den Neurowissenschaften aus? Sind sie auch angreifbar?
Es gibt also keine grundlegenden Unterschiede zwischen Männer- und Frauengehirnen?
Insgesamt muss man sagen, dass das, was man an Unterschieden zwischen so genannten weiblichen und männlichen Gehirnen gefunden hat, völlig die große Bandbreite der Unterschiede innerhalb der Geschlechter verdeckt. Und das ist ein Grundphänomen, das wir nicht nur auf der organischen Ebene haben, sondern auch auf der Verhaltensebene. Man lässt sich leicht täuschen: Wenn man Differenzen zwischen Gruppen feststellt, erweckt dies den Eindruck, dass die Gruppen in sich homogen sind. Sind sie aber nicht, und das sind auch ihre Gehirne nicht.
Sind dann bei Jungen und Mädchen die Unterschiede innerhalb der Gruppen womöglich weniger stark, weil einfach die Prägung über die Jahre noch nicht stattgefunden hat?
Auch da muss man vorsichtig sein. Die großen Leistungsstudien wie PISA oder IGLU zeigen, dass die Differenzen zwischen Jungen und Mädchen in verschiedenen Ländern verschieden groß sind. Sie sind sogar innerhalb von Deutschland, wenn Sie das Lesen nehmen, in verschiedenen Bundesländern unterschiedlich groß. Ich glaube, auch da suggerieren uns solche Gesamtgruppenvergleiche eine überbewertete Unterschiedlichkeit. Denn eigentlich ist die Besonderheit der Einzelperson für die untersuchte Fähigkeit viel bedeutsamer als so ein einzelner Faktor wie Geschlecht oder Migrationshintergrund.
Wenn schon der Nutzen fraglich ist, wie groß ist dann die von den Autoren angesprochene Gefahr, dass ein getrennter Unterricht stereotypes Verhalten fördert?
Wenn wir getrennte Institutionen in der Gesellschaft schaffen, betonen wir damit auch Unterschiede. Das können Sie etwa bei behinderten Schülerinnen und Schülern sehen, die in besonderen Schulen unterrichtet werden, was ganz stark die Wahrnehmung dieser Personen als andersartig prägt. Sie konnten das bei den Vorbereitungsklassen sehen, die man früher für Einwandererkinder hatte. Und so ist das auch bei der Koeduktion oder der Monoedukation: Wenn ich eine Mädchen- und eine Jungenschule habe, dann prägt das in der Gesellschaft dieses Merkmal als bedeutsam aus.
Heißt das, Koedukation verhindert tatsächlich Vorurteile?
Nein, die Gruppen einfach in einer Institution zusammenzutun, bedeutet nun nicht, dass keine Vorurteile mehr da sind oder keine Stereotype mehr existieren. Das lässt sich beispielsweise in Wohngebieten beobachten, wo Migranten eng mit "alteingesessenen" Deutschen zusammenleben: Gerade die Nähe kann hier eine Kontrastierung fördern.
Wie kann Schule dann positiv gegen Stereotype wirken?
Es ist wichtig, dass man nicht nur die "Hardware" betrachtet, also wie die Schule organisiert ist. Wirklich entscheidend sind Unterricht und Schulleben, die innerhalb dieser Einrichtung stattfinden. Und da bietet nur der koedukative Unterricht überhaupt die Chance, Probleme zu thematisieren, mit ihnen umzugehen. Denn schließlich müssen Jungen und Mädchen ja lernen, dass sie in der Gesellschaft miteinander leben, so sieht die Gesellschaft vor der Schule, neben der Schule und nach der Schule nun einmal aus. Da erscheint mir der koedukative Unterricht viel geeigneter: nicht um Stereotype grundsätzlich zu vermeiden, aber um sie zu bearbeiten.
Welche Probleme stellen noch vorhandene Stereotype im Kopf der Lehrerinnen und Lehrer dar?
Darüber wissen wir relativ wenig. Das Problem besteht darin, dass viele der Studien, mit denen heute noch argumentiert wird, aus den 1980er und 1990er Jahren stammen. Und in den Sozialwissenschaften stehen wir immer vor der Schwierigkeit, dass unser Wissen aus solchen Studien hinter den gesellschaftlichen Entwicklungen hinterherhinkt. Deshalb wissen wir nie, ob sie heute noch gelten – zumal sie ja auch selbst wieder zurückwirken auf die Gesellschaft: Menschen, die diese Ergebnisse lesen, reagieren darauf. Wir wissen allerdings nicht, ob sie daraufhin wirklich ihre Einstellungen ändern oder ob sie nur an der Oberfläche so tun als ob, damit sie nicht auffallen.
Sicher sagen kann man nur, dass sich die Situation von Klassenzimmer zu Klassenzimmer unterscheidet: Viele Lehrer sind für diese Probleme wirklich sensibilisiert worden, auch schon in ihrer Ausbildung, und andere reproduzieren schlicht, was sie selbst als Kinder an Vorurteilen erlebt haben.
Inwieweit wird das Material, mit dem Lehrer arbeiten, der unterschiedlichen Herangehensweise – in den Grenzen, in denen es sie gibt – von Mädchen und Jungen gerecht?
Noch bis vor Kurzem war ein Problem, dass Lesebücher vorrangig narrative Texte enthalten haben, die als Textform eher Mädchen entgegengekommen sind, während im naturwissenschaftlichen Bereich die Bücher mehr Beispiele enthielten, die aus der Technik kamen und eher den "Durchschnittsjungen" angesprochen haben. Da denke ich, dass gerade die PISA- und die IGLU-Studie Fortschritte erbracht haben im Lesebereich, also zum Beispiel Sachtexte nun eine höhere Bedeutung in der Schule bekommen haben. Inwieweit jetzt in den Naturwissenschaften die Alltagsbedeutung von Erkenntnissen zum Beispiel in der Chemie – wie Nahrungsmittel, Kosmetik und ähnliche Bereiche – zugenommen hat, das kann ich nicht einschätzen.
Also bringen geschlechtsspezifische Vorlagen doch mehr Lernerfolg?
Nein, es wäre auf jeden Fall fatal zu sagen: Gut, wir machen jetzt ein rosa Lesebuch für die Mädchen und ein blaues für die Jungen. Denn die Unterschiede innerhalb dieser Gruppen sind viel größer als jene zwischen ihnen. Der Unterricht muss so gestaltet sein, dass das Individuum die Texte, die Aufgabenformen, die Themen aufnehmen kann, an denen es sich von seiner Erfahrung, von den Interessen her am besten einklinken kann. Wir müssen wegkommen von der Vorstellung, spezielle Jungenprogramme oder Mädchenprogramme aufzusetzen. Wir müssen vielmehr darauf abzielen, einen Unterricht zu bieten, der offen ist für die Vielfalt der Schülerinnen und Schüler.
Wo sehen Sie hier die Hausaufgaben für die entsprechenden Ministerien und Entscheidungsträger? Wohin sollte die Bildungspolitik gehen?
Ich weiß gar nicht, ob die Ministerien da so viel tun müssten – ich sehe das Problem viel eher auf der Ebene der Umsetzung. Denn wenn Sie sich Lehrpläne und Richtlinien ansehen, dann wird genau das, was ich gerade gesagt habe, gefordert. Die Herausforderung besteht darin, die Grundsätze des Unterrichts anzupassen: Lehrerinnen und Lehrer dürfen sich nicht mehr als Belehrende auffassen, die alle im Gleichschritt mit demselben Input versorgen, sondern sie müssen Schülerinnen und Schüler in ihren Kompetenzen aktivieren und den Austausch zwischen den Schülern zu dem entscheidenden Lernmotor machen. Und dann ist es gar nicht mehr wichtig, ob der Sachtext von einem Mädchen oder einem Jungen eingebracht wird, wichtig ist, dass dieser Austausch stattfindet.
Und vielleicht gibt es dann hier tatsächlich noch einen Lerneffekt aus der Genderforschung: zu realisieren, dass das Geschlecht auch eine störende Rolle spielen kann. Ein Lehrer sollte aufmerksam beobachten, ob sich zum Beispiel in einer Klasse die Jungen und die Mädchen sehr stark separieren und über die jeweils anderen in einer negativen Weise sprechen. An dieser Stelle muss man eingreifen, aber nicht durch andere Materialien oder gar getrennten Unterricht.
Halten Sie das bei den momentanen Bedingungen für Lehrer für realistisch?
Sagen wir mal, es ist eher ein Trend zur Standardisierung zu beobachten – nicht umsonst wird ja von Bildungsstandards gesprochen. Das bedeutet in der Tat eher eine Verengung des Unterrichts auf Gleichartiges für alle. Andererseits steht in allen Lehrplänen und Richtlinien immer wieder Individualisierung als das zentrale Prinzip. Das ist auf der einen Seite natürlich ein Problem für den täglichen Unterricht, aber auch eine Chance. Denn die Lehrerinnen und Lehrer können sich immer auf diesen Anspruch berufen. Ich glaube aber, dass dies nur gelingen kann, wenn sie das nicht als Einzelkämpfer aufnehmen. Sie müssen sich vielmehr in einer Schule verbünden, über ein gemeinsames Schulprogramm, über gemeinsame Unterrichtsvorbereitung und -reflexion versuchen, das, was sich gewissermaßen als Tradition immer leicht durchsetzt, kritisch zu betrachten und weiterzuentwickeln. Es gibt gute Beispiele, in denen das gelingt, aber ich weiß auch, dass das ein ganz besonderes Engagement von den Lehrern verlangt.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Hans Brügelmann: Das überrascht mich nicht, denn es handelt sich in der Tat um ein sehr konfliktträchtiges Gebiet, in dem es um starke politische Interessen geht – ganz ähnlich wie bei früheren Angriffen auf Koedukation von Feministinnen oder aus den Kirchen.
Wie belastbar sind die neuen Forschungsergebnisse, die eine bessere Lernleistung bei getrenntem Unterricht postulieren?
Es ist forschungsmethodisch ungeheuer schwierig herauszufinden, welche Rollen einzelne Faktoren im sozialen Feld spielen. Wir haben kleine Untersuchungen, die sehr dicht sind, aber nicht repräsentativ. Und wir haben große Untersuchungen, die sich dann aber auf wenige Variablen beschränken müssen. Beispielsweise können unterschiedliche Wirkungen von Mono- und Koedukation daran liegen, dass es systematische Unterschiede zwischen den Familien gibt, die beide Schulformen wählen. Das ergibt natürlich eine Fülle von Befunden, von denen man sich dann die herauspicken kann, die gerade zur eigenen Ideologie passen. Insofern haben die Forscher völlig Recht: In dem Feld werden Befunde leicht überbewertet, und es wird so getan, als wisse man schon sehr viel, obwohl man im Grunde nur an der Oberfläche kratzt.
Und wie sieht es mit Ergebnissen aus den Neurowissenschaften aus? Sind sie auch angreifbar?
Zumindest werden sie in der Rezeption außerordentlich vereinfacht. Es wird ja immer so getan, als ob die Gehirne die Ursache von Verhalten seien – als ob Unterschiede in den Gehirnstrukturen und Funktionsweisen des Gehirns die Erklärungen dafür liefern, warum Menschen sich unterschiedlich verhalten. Nun sind aber die Gehirne nicht nur Produkte von genetischen Programmen, sondern sie sind auch Sedimente von persönlichen Erfahrungen. Gehirne sind also auch sehr unterschiedlich auf Grund kultureller Einflüsse.
Es gibt also keine grundlegenden Unterschiede zwischen Männer- und Frauengehirnen?
Insgesamt muss man sagen, dass das, was man an Unterschieden zwischen so genannten weiblichen und männlichen Gehirnen gefunden hat, völlig die große Bandbreite der Unterschiede innerhalb der Geschlechter verdeckt. Und das ist ein Grundphänomen, das wir nicht nur auf der organischen Ebene haben, sondern auch auf der Verhaltensebene. Man lässt sich leicht täuschen: Wenn man Differenzen zwischen Gruppen feststellt, erweckt dies den Eindruck, dass die Gruppen in sich homogen sind. Sind sie aber nicht, und das sind auch ihre Gehirne nicht.
Sind dann bei Jungen und Mädchen die Unterschiede innerhalb der Gruppen womöglich weniger stark, weil einfach die Prägung über die Jahre noch nicht stattgefunden hat?
Auch da muss man vorsichtig sein. Die großen Leistungsstudien wie PISA oder IGLU zeigen, dass die Differenzen zwischen Jungen und Mädchen in verschiedenen Ländern verschieden groß sind. Sie sind sogar innerhalb von Deutschland, wenn Sie das Lesen nehmen, in verschiedenen Bundesländern unterschiedlich groß. Ich glaube, auch da suggerieren uns solche Gesamtgruppenvergleiche eine überbewertete Unterschiedlichkeit. Denn eigentlich ist die Besonderheit der Einzelperson für die untersuchte Fähigkeit viel bedeutsamer als so ein einzelner Faktor wie Geschlecht oder Migrationshintergrund.
Wenn schon der Nutzen fraglich ist, wie groß ist dann die von den Autoren angesprochene Gefahr, dass ein getrennter Unterricht stereotypes Verhalten fördert?
Wenn wir getrennte Institutionen in der Gesellschaft schaffen, betonen wir damit auch Unterschiede. Das können Sie etwa bei behinderten Schülerinnen und Schülern sehen, die in besonderen Schulen unterrichtet werden, was ganz stark die Wahrnehmung dieser Personen als andersartig prägt. Sie konnten das bei den Vorbereitungsklassen sehen, die man früher für Einwandererkinder hatte. Und so ist das auch bei der Koeduktion oder der Monoedukation: Wenn ich eine Mädchen- und eine Jungenschule habe, dann prägt das in der Gesellschaft dieses Merkmal als bedeutsam aus.
Heißt das, Koedukation verhindert tatsächlich Vorurteile?
Nein, die Gruppen einfach in einer Institution zusammenzutun, bedeutet nun nicht, dass keine Vorurteile mehr da sind oder keine Stereotype mehr existieren. Das lässt sich beispielsweise in Wohngebieten beobachten, wo Migranten eng mit "alteingesessenen" Deutschen zusammenleben: Gerade die Nähe kann hier eine Kontrastierung fördern.
Wie kann Schule dann positiv gegen Stereotype wirken?
Es ist wichtig, dass man nicht nur die "Hardware" betrachtet, also wie die Schule organisiert ist. Wirklich entscheidend sind Unterricht und Schulleben, die innerhalb dieser Einrichtung stattfinden. Und da bietet nur der koedukative Unterricht überhaupt die Chance, Probleme zu thematisieren, mit ihnen umzugehen. Denn schließlich müssen Jungen und Mädchen ja lernen, dass sie in der Gesellschaft miteinander leben, so sieht die Gesellschaft vor der Schule, neben der Schule und nach der Schule nun einmal aus. Da erscheint mir der koedukative Unterricht viel geeigneter: nicht um Stereotype grundsätzlich zu vermeiden, aber um sie zu bearbeiten.
Welche Probleme stellen noch vorhandene Stereotype im Kopf der Lehrerinnen und Lehrer dar?
Darüber wissen wir relativ wenig. Das Problem besteht darin, dass viele der Studien, mit denen heute noch argumentiert wird, aus den 1980er und 1990er Jahren stammen. Und in den Sozialwissenschaften stehen wir immer vor der Schwierigkeit, dass unser Wissen aus solchen Studien hinter den gesellschaftlichen Entwicklungen hinterherhinkt. Deshalb wissen wir nie, ob sie heute noch gelten – zumal sie ja auch selbst wieder zurückwirken auf die Gesellschaft: Menschen, die diese Ergebnisse lesen, reagieren darauf. Wir wissen allerdings nicht, ob sie daraufhin wirklich ihre Einstellungen ändern oder ob sie nur an der Oberfläche so tun als ob, damit sie nicht auffallen.
Sicher sagen kann man nur, dass sich die Situation von Klassenzimmer zu Klassenzimmer unterscheidet: Viele Lehrer sind für diese Probleme wirklich sensibilisiert worden, auch schon in ihrer Ausbildung, und andere reproduzieren schlicht, was sie selbst als Kinder an Vorurteilen erlebt haben.
Inwieweit wird das Material, mit dem Lehrer arbeiten, der unterschiedlichen Herangehensweise – in den Grenzen, in denen es sie gibt – von Mädchen und Jungen gerecht?
Noch bis vor Kurzem war ein Problem, dass Lesebücher vorrangig narrative Texte enthalten haben, die als Textform eher Mädchen entgegengekommen sind, während im naturwissenschaftlichen Bereich die Bücher mehr Beispiele enthielten, die aus der Technik kamen und eher den "Durchschnittsjungen" angesprochen haben. Da denke ich, dass gerade die PISA- und die IGLU-Studie Fortschritte erbracht haben im Lesebereich, also zum Beispiel Sachtexte nun eine höhere Bedeutung in der Schule bekommen haben. Inwieweit jetzt in den Naturwissenschaften die Alltagsbedeutung von Erkenntnissen zum Beispiel in der Chemie – wie Nahrungsmittel, Kosmetik und ähnliche Bereiche – zugenommen hat, das kann ich nicht einschätzen.
Also bringen geschlechtsspezifische Vorlagen doch mehr Lernerfolg?
Nein, es wäre auf jeden Fall fatal zu sagen: Gut, wir machen jetzt ein rosa Lesebuch für die Mädchen und ein blaues für die Jungen. Denn die Unterschiede innerhalb dieser Gruppen sind viel größer als jene zwischen ihnen. Der Unterricht muss so gestaltet sein, dass das Individuum die Texte, die Aufgabenformen, die Themen aufnehmen kann, an denen es sich von seiner Erfahrung, von den Interessen her am besten einklinken kann. Wir müssen wegkommen von der Vorstellung, spezielle Jungenprogramme oder Mädchenprogramme aufzusetzen. Wir müssen vielmehr darauf abzielen, einen Unterricht zu bieten, der offen ist für die Vielfalt der Schülerinnen und Schüler.
Wo sehen Sie hier die Hausaufgaben für die entsprechenden Ministerien und Entscheidungsträger? Wohin sollte die Bildungspolitik gehen?
Ich weiß gar nicht, ob die Ministerien da so viel tun müssten – ich sehe das Problem viel eher auf der Ebene der Umsetzung. Denn wenn Sie sich Lehrpläne und Richtlinien ansehen, dann wird genau das, was ich gerade gesagt habe, gefordert. Die Herausforderung besteht darin, die Grundsätze des Unterrichts anzupassen: Lehrerinnen und Lehrer dürfen sich nicht mehr als Belehrende auffassen, die alle im Gleichschritt mit demselben Input versorgen, sondern sie müssen Schülerinnen und Schüler in ihren Kompetenzen aktivieren und den Austausch zwischen den Schülern zu dem entscheidenden Lernmotor machen. Und dann ist es gar nicht mehr wichtig, ob der Sachtext von einem Mädchen oder einem Jungen eingebracht wird, wichtig ist, dass dieser Austausch stattfindet.
Und vielleicht gibt es dann hier tatsächlich noch einen Lerneffekt aus der Genderforschung: zu realisieren, dass das Geschlecht auch eine störende Rolle spielen kann. Ein Lehrer sollte aufmerksam beobachten, ob sich zum Beispiel in einer Klasse die Jungen und die Mädchen sehr stark separieren und über die jeweils anderen in einer negativen Weise sprechen. An dieser Stelle muss man eingreifen, aber nicht durch andere Materialien oder gar getrennten Unterricht.
Halten Sie das bei den momentanen Bedingungen für Lehrer für realistisch?
Sagen wir mal, es ist eher ein Trend zur Standardisierung zu beobachten – nicht umsonst wird ja von Bildungsstandards gesprochen. Das bedeutet in der Tat eher eine Verengung des Unterrichts auf Gleichartiges für alle. Andererseits steht in allen Lehrplänen und Richtlinien immer wieder Individualisierung als das zentrale Prinzip. Das ist auf der einen Seite natürlich ein Problem für den täglichen Unterricht, aber auch eine Chance. Denn die Lehrerinnen und Lehrer können sich immer auf diesen Anspruch berufen. Ich glaube aber, dass dies nur gelingen kann, wenn sie das nicht als Einzelkämpfer aufnehmen. Sie müssen sich vielmehr in einer Schule verbünden, über ein gemeinsames Schulprogramm, über gemeinsame Unterrichtsvorbereitung und -reflexion versuchen, das, was sich gewissermaßen als Tradition immer leicht durchsetzt, kritisch zu betrachten und weiterzuentwickeln. Es gibt gute Beispiele, in denen das gelingt, aber ich weiß auch, dass das ein ganz besonderes Engagement von den Lehrern verlangt.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
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