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Teilchenphysik: "Wir müssen warten, was die Natur wirklich für uns bereithält"

Gibt es das Higgs-Teilchen oder nicht? Die Physiker am Teilchenbeschleuniger LHC werden diese Frage bald beantworten können. Felicitas Pauss spricht über die Balance zwischen der Begeisterung tausender Wissenschaftler und einer sorgfältigen Datenauswertung und wie sie die internationale Zusammenarbeit der Teilchenphysiker ausbaut.
CMS-Detektor
spektrumdirekt/AcademiaNet: Seit November 2009 ist der Large Hadron Collider (LHC) nach langer Reparaturpause endlich wieder aktiv. Mittlerweile kollidieren die Protonen in dem 27 Kilometer langen Tunnel – mit der Hälfte der Energie, für die der Teilchenbeschleuniger eigentlich gebaut wurde. Wie geht es weiter?

Prof. Felicitas Pauss: Wir planen, dieses und das nächste Jahr dazu zu nutzen, eine sehr große Datenmenge aufzunehmen. 2013 schalten wir den LHC dann für mehr als ein Jahr ab, um die notwendigen Arbeiten durchführen zu können, damit wir den Beschleuniger bei einer Energie von 14 Teraelektronvolt in Betrieb nehmen können – also einen Faktor zwei höher als heute.

Die Energie der Maschine wächst mit den Erkenntnissen?

Es wurde 2009 beschlossen, den LHC zuerst bei einer niedrigeren Energiestufe in Betrieb zu nehmen. Nun müssen weitere Verbesserungen an der Maschine vorgenommen werden, um beim 14-TeV-Betrieb nicht wieder eine Panne zu riskieren, welche dann die Maschine für längere Zeit stilllegt.

Der LHC soll mindestens bis 2025 laufen – von welchen Faktoren hängt das ab?

Es ist in der Teilchenphysik üblich, dass ein Beschleuniger über viele Jahre hinweg betrieben wird, um das Physikpotenzial vollständig auszuschöpfen. Es hängt natürlich auch davon ab, wie viele Daten wir aufzeichnen müssen, um neue Physik zu entdecken. Wir wissen aber, dass wir sehr viele Daten benötigen: Entweder wollen wir die neuen Erkenntnisse – wie zum Beispiel neue Teilchen – im Detail studieren, oder wir brauchen mehr Daten, um Zugang zu einer noch höheren Massenskala zu erhalten.

Felicitas Pauss | Die gebürtige Österreicherin leitet seit 2009 die internationalen Beziehungen am CERN. Zuvor war sie unter anderem Professorin für experimentelle Teilchenphysik an der ETH Zürich und in den 1980er Jahren an der Entdeckung des Z-Teilchens beteiligt.


Und wie sieht die Zukunft nach 2025 aus?

Das hängt sehr davon ab, was wir in den kommenden Jahren an neuen Erkenntnissen gewinnen werden. Zu unserer großen Freude funktionieren bisher sowohl der LHC als auch seine Experimente besser, als wir es erhofft hatten – das gilt jedenfalls für mich. Nach dieser ersten Phase – Ende nächsten Jahres – haben wir vielleicht einige wichtige Wegweiser dafür, in welche Richtung es weitergehen könnte. Diese erste Phase ist richtungsweisend für die Zukunft.

Die Berichterstattung über den LHC in der Presse ist mal euphorisch, dann schlägt sie wieder ins Gegenteil um. In manchen Medien wurde kürzlich diskutiert, dass das Higgs-Teilchen immer noch nicht entdeckt wurde. Müssen wir geduldiger sein?

Ja, das Higgs-Teilchen ist noch nicht entdeckt, aber das ist zum heutigen Zeitpunkt nicht wirklich zu erwarten. Man muss eine gute Balance finden: Auf der einen Seite herrscht die Begeisterung tausender Wissenschaftler, die komplizierte Datenanalysen durchführen und natürlich hoffen, vielleicht noch in diesem Jahr eine bahnbrechende Entdeckung machen zu können. Auf der anderen Seite müssen wir sicher sein, dass wir nichts übersehen, und dürfen uns vor allem von keiner statistischen Fluktuation in die Irre führen lassen, da diese Auswertungen sehr schwierig sind. Die Medien sollten deshalb auch geduldig sein. Wenn der LHC und die Experimente weiter so fantastisch funktionieren, werden wir bis zum Ende des nächsten Jahres sehr wahrscheinlich das Higgs-Teilchen entweder entdecken oder seine Existenz ausschließen können.

Welche Bedeutung hat der LHC für Sie persönlich?

Ich bin seit Mitte der 1980er Jahre im experimentellen Programm am LHC involviert, zuerst in den Vorbereitungsstudien und danach im Bau des so genannten CMS-Experiments, eines der vier großen Experimente am LHC. Ich bin wirklich davon überzeugt, dass wir am Ende der LHC-Laufzeit mit den erhaltenen Ergebnissen die Geschichtsbücher der Teilchenphysik neu schreiben können. Wir werden fundamentale Erkenntnisse über den Aufbau des Mikrokosmos erhalten und gleichzeitig auch die faszinierende Symbiose zwischen Teilchenphysik und Kosmologie verstärken.

Sie selbst arbeiten am CMS-Experiment und haben das Kristallkalorimeter mitentwickelt. Können Sie erklären, was das ist und welche Rolle es im Detektor spielt?

Aus der großen Bewegungsenergie der kollidierenden Teilchen entsteht am LHC – gemäß Einsteins berühmter Gleichung E = mc2 – Materie, das heißt, es entstehen neue Teilchen. Die Detektoren haben die Aufgabe, die Eigenschaften der bei diesen Kollisionen neu entstandenen Teilchen zu vermessen, zum Beispiel ihre Identität und ihre Energie. Ferner studieren wir die Topologien der aufgezeichneten Ereignisse, und aus all diesen Informationen können wir Rückschlüsse ziehen über die zu Grunde liegenden physikalischen Prozesse.

Um die Energie der Teilchen zu messen, werden sie in einem schweren Detektormaterial – eben dem Kalorimeter – vollständig abgebremst. Dabei deponieren diese Teilchen ihre gesamte Energie. Mit dem von uns entwickelten elektromagnetischen Kalorimeter können wir die Energie der Elektronen und Photonen sehr genau vermessen. Das Kalorimeter besteht aus ungefähr 76 000 stabförmigen, zirka 23 Zentimeter langen Kristallen. Die Herausforderung war, die Kristalle so herzustellen, dass alle die gleichen physikalischen Eigenschaften haben und für ungefähr 15 Jahre Datennahme die Szintillationseigenschaften (die Teilchen regen das Material des Detektors an – dadurch produziert er Lichtsignale; Anmerkung der Redaktion) trotz der hohen Strahlenbelastung nicht verlieren. Das war eine sehr spannende, aber auch anspruchsvolle Aufgabe. Das Kristallkalorimeter funktioniert sehr gut und könnte auch eine wichtige Rolle beim Nachweis des Higgs-Teilchens spielen.

Neben den Forschungsarbeiten sind Sie die Verantwortliche für internationalen Beziehungen hier am CERN. Was beinhaltet diese Aufgabe?

Am CERN gibt es neben dem eigentlichen CERN-Personal noch mehr als 10 000 Wissenschaftler und Ingenieure aus 70 Ländern, welche die wissenschaftlichen Anlagen – vor allem den LHC – für ihre Forschung verwenden. Neben den 20 Mitgliedsstaaten haben wir mit mehr als 40 Ländern weltweit so genannte International Cooperation Agreements. Eine meiner Aufgaben ist es, gute Beziehungen zwischen dem CERN und diesen Ländern zu pflegen – und wo nötig auch auszubauen. Einer der wichtigen Aspekte in den vergangenen zwei Jahren war die geografische Erweiterung vom CERN. Im Juni 2010 hat der CERN-Rat beschlossen, dass auch nichteuropäische Länder Mitgliedsstaaten des CERN werden können. Ferner wurden die Bedingungen für assoziierte Mitgliedschaft abgeändert.

Gibt es unterschiedliche Wissenschaftskulturen? Oder eher eine globale Wissenschaftlergemeinschaft?

Die wissenschaftliche Zusammenarbeit, die sich seit der CERN-Gründung im Jahr 1954 bewährt hat, fasziniert mich: Sie funktioniert unabhängig von politischen Problemen oder kulturellen Unterschieden der beteiligten Nationen. So arbeiteten zum Beispiel Wissenschaftler aus Europa, Amerika, China, Russland, Indien und Pakistan zusammen, um einen technologisch sehr komplexen Detektor wie das CMS-Experiment zu bauen. Und heute beteiligen sie sich gemeinsam an der Datenanalyse.

Der wissenschaftliche Zugang und die Methoden sind eigentlich überall gleich. Ich glaube, die wissenschaftliche Sprache ist einfach universell. Wichtig ist, dass die Kollaboration und nicht ein Außenministerium entscheidet, ob ein Institut aus einem bestimmten Land als neues Mitglied in die Kollaboration aufgenommen wird. Und das hängt davon ab, ob es in diesem Institut wissenschaftliche Kompetenz gibt und Studenten ihre Doktorarbeit im Rahmen des Experiments durchführen werden. Und natürlich muss auch eine finanzielle Unterstützung seitens der Institutionen des entsprechenden Landes sichergestellt sein.

Felicitas Pauss | "Ich bin wirklich davon überzeugt, dass wir am Ende der LHC-Laufzeit mit den erhaltenen Ergebnissen die Geschichtsbücher der Teilchenphysik neu schreiben können."


Im Sommer 2010 sind Sie nach China gereist und haben dort auch physikalische Installationen angeschaut. War das Ziel eine mögliche Zusammenarbeit mit dem CERN?

Während meines vierwöchigen Aufenthalts in China habe ich in Peking mit Politikern und Vertretern der Akademie gesprochen und wissenschaftliche Installationen in verschiedenen Gegenden von China besucht. China hat ein großes Interesse an internationaler Zusammenarbeit und bietet die gemeinsame Nutzung seiner wissenschaftlichen Anlagen an.

Im Süden des Landes wird bald eine neue Forschungsanlage für Neutrinophysik in Betrieb genommen, welche in der Zukunft zu den besten ihrer Art weltweit gehören wird. US-amerikanische Physiker sind zum Beispiel sehr stark in dieses Projekt involviert. Ich habe die Anlage besucht und war vom Fortschritt der Arbeiten sehr beeindruckt.

Ich gehe davon aus, dass in unseren Disziplinen – Teilchenphysik und Astroteilchenphysik – die zukünftigen Projekte, bedingt auch durch ihre Größe und die damit verbundenen Kosten, von Beginn an als "globale" Projekte konzipiert werden. Das heißt, man bemüht sich darum, dass große Projekte nicht dupliziert werden, und auch, dass es eine Aufteilung geben sollte, solche Großprojekte in den verschiedenen Regionen auf unserem Planeten durchzuführen. In diesem Sinn sollte der CERN in der Zukunft weltweit die Hochburg der Teilchenphysik im Hochenergiebereich bleiben.

Sie waren vor 30 Jahren das erste Mal in China. Wie haben Sie die Entwicklung des Landes und der Wissenschaft dort erlebt?

Damals begann wohl die Öffnung des Landes für den Tourismus. Am Ende der Reise habe ich auch einen Vortrag am Physikinstitut in Peking gehalten. Zu jener Zeit wurde noch jede einzelne Folie ins Chinesische übersetzt – mein Vortrag hat also sehr lange gedauert. Es war für mich eine sehr interessante Erfahrung.

Das wissenschaftliche Umfeld hat sich seither stark weiterentwickelt, vor allem auch auf dem technologischen Sektor. Seit vielen Jahren gibt es einen Teilchenbeschleuniger in Peking, der bereits viele exzellente wissenschaftliche Resultate geliefert hat. Die Zusammenarbeit mit CERN existiert schon seit den 1970er Jahren und hat sich in den letzten 20 Jahren sehr verstärkt. Zum Beispiel ist ein Teil der Kristalle für das CMS-Experiment in China produziert worden. Wenn ich an meinen ersten Besuch in China zurückdenke, ist es schon erstaunlich, wie stark sich China innerhalb doch so kurzer Zeit verändert hat.

Sie sagten, dass es zurzeit ungefähr 3000 Studentinnen und Studenten am CERN gibt, die Männer aber noch deutlich in der Überzahl sind – wie ist denn Ihr Eindruck: Hat sich der Anteil der Frauen im Lauf der Zeit verändert? Wie ist die Tendenz?

Aus unserer Statistik geht hervor, dass der Anteil an Studentinnen und wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen in den Kollaborationen am CERN steigt; das freut mich sehr. Das Potenzial ist also da, und ich denke, wir sind auf dem richtigen Weg. Man darf aber nicht vergessen, dass bei jungen Frauen auch das Problem der parallelen Karriereplanung – mit Ehemann oder Partner und Kindern – existiert. Welche Prioritäten meine jungen Kolleginnen setzen, ist natürlich eine sehr persönlich Entscheidung, die nicht immer leicht ist.

Noch einmal zurück zum LHC: Wären Sie denn gerne an einer Entdeckung beteiligt, die ganz unerwartet ist, also jenseits der Theorien?

Ja, natürlich! Am Ende eines Vortrags sagen wir Experimentalphysiker manchmal gerne: Das Spannendste wäre natürlich, etwas zu entdecken, was einfach inkonsistent mit den gängigen Erklärungen ist und somit die Theoretiker herausfordert, über neue Konzepte nachzudenken. Wir müssen warten, was die Natur wirklich für uns bereithält.

Frau Professor Pauss, herzlichen Dank für das Gespräch.

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