Flüchtlinge: Vertriebene Forscher kämpfen mit Hürden und Heimweh
Als der Krieg in Syrien 2012 Aleppo erreichte, floh der Geograf Mohamed Ali Mohamed mit seiner Familie in eine etwa 50 Kilometer entfernte Kleinstadt im Norden. Zwei Jahre lang pendelte er jeden Tag mit öffentlichen Verkehrsmitteln an die Universität Aleppo, um seiner Lehrtätigkeit nachzugehen – ungeachtet der andauernden Straßenkämpfe und Luftangriffe. Doch 2014 war die Lage schließlich so gefährlich, dass er nicht mehr täglich fahren konnte. Bald darauf wurde das Geld knapp, und die Lebensmittel gingen zur Neige.
Ali Mohamed hatte zwar eine Einladung aus Deutschland erhalten, um dort weiter Forschung zu betreiben, es gab jedoch keine einfache Möglichkeit, außer Landes zu gelangen. Also beauftragte er einen Schlepper, der ihn gegen Bezahlung in die Türkei bringen sollte. Mitten in der Nacht ließ der syrische Wissenschaftler seine Familie zurück und machte sich zusammen mit drei weiteren Männern zu Fuß durch die Berge auf, "ständig begleitet von der Angst, erschossen zu werden", wie er rückblickend erzählt. Von der Türkei aus schlug er sich dann nach Berlin durch.
Ali Mohamed ist ein geflüchteter Wissenschaftler – und einer der wenigen Glücklichen, die in der Lage sind, ihre Forschungsarbeiten fortzusetzen. Zurzeit ist er in Deutschland tätig, dank eines von der Alexander von Humboldt-Stiftung in Berlin neu eingerichteten Förderprogramms für vertriebene Wissenschaftler. Diese und andere Initiativen fungieren als Rettungsanker für Forscher, die wegen ihrer wissenschaftlichen Arbeit, ihrer politischen Ansichten oder, wie Ali Mohamed, auf Grund von Krieg in ihren Heimatländern zur Flucht gezwungen werden.
Den Organisationen, die in Bedrängnis geratenen Akademikern zur Seite stehen, geht es allerdings nicht nur darum, Leben zu retten. Länder, die von politischen Unruhen erschüttert werden, riskieren nämlich den Verlust ihres intellektuellen Kapitals, wenn Wissenschaftler verschwinden. "Diese Menschen stellen in ihren Heimatländern die Zukunft des höheren Bildungswesens dar. Wenn sie getötet oder vertrieben werden, ist es unmöglich, den gesellschaftlichen Schaden wiedergutzumachen", sagt Stephen Wordsworth, geschäftsführender Direktor des Council for At-Risk Academics (Cara) in London. Und die Zahl gefährdeter Wissenschaftler steigt rasant: In den vergangenen zwei Jahren mehrten sich die bei Cara eingegangenen Anträge auf Unterstützung von drei bis vier Gesuchen pro Woche auf mittlerweile 15 bis 20. Die Organisation stehe gerade einer rekordverdächtigen Anzahl Hilfesuchender zur Seite, erklärt Wordsworth: "Wir verzeichnen die höchsten Bewerberzahlen seit unseren Anfängen in den 1930er Jahren."
Viele können sich vor Sorge um ihre Familien nicht konzentrieren
Doch angesichts der Tatsache, dass sich die Kämpfe im Irak und in Syrien bereits Jahre hinziehen, gleicht eine zeitlich befristete Stelle einem Kanu, in dem man einen Wirbelsturm überstehen muss. Zwar zeigten sich die von "Nature" befragten geflüchteten Wissenschaftler überaus dankbar gegenüber den Menschen und Förderprogrammen, die ihnen Unterstützung gewährt hatten; allerdings stehen diese Menschen, selbst wenn sie Arbeit gefunden haben, immer noch vor zahlreichen Herausforderungen. Visumprobleme bereiten ihnen schlaflose Nächte. Der Abschluss von Wohnraumverträgen und die Aufnahme in die Krankenversicherung gestalten sich schwierig. Die Wissenschaftler müssen sich mit ungewohnten Aufgaben wie dem Schreiben von Forschungsanträgen und dem Einwerben von Fördermitteln herumschlagen. Und vielen fällt es schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, während ihre Familien anderswo festsitzen und nicht wissen, was aus ihnen wird.
"Uns ist sehr wohl bewusst, dass vielen unserer Wissenschaftler ein mühsamer Kampf bevorsteht, der ein bis zwei Jahre oder sogar noch länger dauern kann", meint Sarah Willcox, Leiterin des Scholar Rescue Fund am Institute of International Education in New York City. Diese und andere Organisationen haben ihre Kooperationsbemühungen verstärkt, um Forschern neben der Vermittlung von zeitlich befristeten Stellen auch in anderen Bereichen Unterstützung zu bieten. Ohne solche Hilfe "wären viele unserer Akademiker verloren, und niemand würde mehr von ihnen Notiz nehmen", erklärt Willcox.
Hätte sein Mentor sich nicht für ihn eingesetzt, säße Ali Mohamed vermutlich immer noch in Syrien – frierend, hungrig und ohne Hoffnung auf eine berufliche Zukunft. Hilmar Schröder, Geomorphologe an der Berliner Humboldt-Universität, war Ali Mohameds Doktorvater und hatte den Syrer während seiner Dissertation in Bodenkartografie fachlich unterstützt. Nach Abschluss der Promotion im Jahr 2010 kehrte Ali Mohamed nach Syrien zurück, um eine Stelle als Dozent an der Universität Aleppo anzutreten. Er werde dort gebraucht, erklärte der Wissenschaftler seinem früheren Betreuer; außerdem handelte es sich um eine unbefristete Stelle an der dortigen Fakultät. Nach Ausbruch des Bürgerkriegs 2011 hatte Schröder seinem ehemaligen Studenten immer wieder besorgte E-Mails geschrieben. "Die Antwort lautete jedes Mal: 'Hier in Aleppo ist alles in Ordnung'", erinnert sich Schröder.
Die früheren Kollegen in Deutschland sammeln für Ali Mohamed
Aber das war schon bald nicht mehr der Fall. Im Juli 2012 erreichten die Kämpfe die nordsyrische Stadt. Die Wohnanlage, in der Ali Mohamed lebte, wurde bei einem Bombenangriff zerstört. Der Wissenschaftler zog daraufhin mit seiner Familie zu Verwandten in der Nähe der syrisch-türkischen Grenze. Als er 2014 seinen Job aufgeben musste, teilte er Schröder diese Neuigkeit mit, woraufhin der umgehend aktiv wurde. Er trommelte Ali Mohameds frühere Kollegen in Berlin zusammen, einschließlich des Dekans der Universität und des Fachbereichsleiters, und nach einigen Monaten hatten sie genügend Geld zusammenbekommen, um eine einjährige Stelle für einen Gastwissenschaftler zu finanzieren. Per E-Mail unterbreiteten sie dem Syrer das Angebot. Im November 2015 entschloss sich Ali Mohamed, die Reise in die Türkei auf dem Landweg zu wagen. Dort angekommen, beantragte er sogleich ein Visum für Deutschland, und im Dezember konnte Schröder ihn auf dem Berliner Flughafen in Empfang nehmen.
Eine Kollegin Schröders, die vor Kurzem in Ruhestand gegangen war und die den Syrer noch aus seiner Studentenzeit kannte, nahm ihn zu einer Weihnachtsfeier mit. "Ich wurde sehr herzlich begrüßt, und jeder gab mir ein Geschenk", erinnert sich Ali Mohamed. Jene Kollegin war es auch, die ihm Winterkleidung kaufte, ihn einlud, bei ihr zu wohnen, und ihm half, mit der Bürokratie fertigzuwerden. Ali Mohamed blieb mehrere Monate bei ihr. "Ohne diese Frau hätte er es nicht geschafft", meint Schröder.
Etwa sechs Monate nach seiner Ankunft in Deutschland erhielt der syrische Wissenschaftler ein Stipendium der Philipp Schwartz-Initiative der Alexander von Humboldt-Stiftung, die es Hochschulen und Forschungseinrichtungen in Deutschland ermöglicht, sich um Finanzmittel für die Aufnahme von geflüchteten Akademikern zu bewerben. Das Förderprogramm umfasst einen monatlichen Betrag von bis zu 3500 Euro über einen Zeitraum von maximal 24 Monaten sowie eine Pauschale von 12 000 Euro, die der Gastinstitution zur Deckung eventueller Zusatzkosten zur Verfügung gestellt werden. Das Stipendium war "meine Rettung", meint Ali Mohamed. Mit der zusätzlichen Unterstützung durch die Fakultät kann sich der Forscher jetzt auf eine gut dreijährige finanzielle Förderung verlassen. Zurzeit arbeitet er an einem Projekt zur Entwicklung komplexer Landnutzungskarten von Ballungsräumen, die in der Stadtplanung Anwendung finden sollen.
"Ich habe ständig Angst um meine Familie"Ali Mohamed
Auf seine Arbeit kann er sich aber nicht voll und ganz konzentrieren. "Ich habe ständig Angst um meine Familie", sagt der Syrer. Seine geröteten Augen verraten, dass er nicht viel schläft. Als Ali Mohamed sich auf den Weg in die Türkei machte, hielt er es für seine kleinen Kinder zu riskant, ihn zu begleiteten, insbesondere ohne ein türkisches Visum. Seine Familie wollte die Reise 2016 antreten – nachdem deutsche Behörden zugesichert hatten, ihnen in der deutschen Vertretung in der Türkei ein Visum für die Bundesrepublik auszuhändigen. Doch genau an jenem Tag, an dem sich die Familie auf den Weg machte, schloss die Türkei ihre Grenze zu Syrien, und seitdem sitzen Ali Mohameds Frau und Kinder in einem Flüchtlingslager fest. Schröder erklärt zwar, er und seine Kollegen stünden in regelmäßigem Kontakt mit dem Auswärtigen Amt, um die Familie des Syrers nach Deutschland zu holen, aber bislang erwiesen sich die politischen und logistischen Hindernisse als unüberwindbar. Die deutsche Botschaft in Syrien wurde bis auf Weiteres geschlossen, und die Familie hat keine Möglichkeit, anderswohin zu reisen, um ein deutsches Visum zu bekommen. Ali Mohamed schickt seinen Angehörigen zwar Geld für Lebensmittel, die Zustände im Flüchtlingslager lassen sich jedoch bestenfalls als mangelhaft beschreiben. Vor allem im Winter ist das Leben dort hart. "Ich sorge mich vor allem um die Gesundheit und Sicherheit meiner Kinder", sagt der Familienvater.
Die Tortur des Biowissenschaftlers Kassem Alsayed Mahmoud begann im Jahr 2010. Ungeachtet seines Alters von 36 Jahren und seiner Stellung als Assistenzprofessor an der Al-Furat-Universität in Deir ez-Zor wurde er zur syrischen Armee eingezogen. Ihm wurde gesagt, er habe nur ein Jahr Militärdienst zu leisten. Doch als der Krieg in Syrien ausbrach, wurde ihm befohlen zu bleiben, bis die Revolution beendet sei. Nach 19 Monaten Dienst an der Waffe und ohne ein Ende des blutigen Konflikts in Sicht, hielt es der Syrer nicht mehr aus: Er desertierte. "Wenn mich das Regime geschnappt hätte, wäre ich getötet worden", sagt Alsayed Mahmoud. In der darauf folgenden Zeit versteckte er sich bei verschiedenen Freunden und Familienmitgliedern, er floh von einem Ort zum anderen, während die Gefechte in Syrien immer heftiger wurden. Im September wurde sein Bruder, der ihm geholfen hatte, sich zu verbergen, bei Kämpfen in Deir ez-Zor getötet. "Die Lage war so gefährlich geworden, dass meine Familie mich drängte, sofort das Land zu verlassen", erinnert sich Alsayed Mahmoud.
Er floh in Richtung Türkei – zunächst mit dem Motorrad, dann mit dem Auto. Über die Grenze schlich er sich heimlich, denn er besaß kein Visum. Ein Freund hatte ihm von Scholars at Risk erzählt, einem internationalen Netzwerk mit Sitz in New York City, an das sich der Syrer nun um Unterstützung bei der Arbeitssuche wandte. Die Organisation sah sich jedoch gerade einer Flut von Hilfsanträgen ausgesetzt und gab deshalb Bewerbern, die sich in unmittelbarer Gefahr befanden, den Vorzug. Alsayed Mahmoud flog daraufhin 2013 nach Katar, um bei einem weiteren seiner Brüder zu leben. Aber die Suche nach Arbeit erwies sich sowohl in Katar als auch in den Nachbarländern als erfolglos.
Europäische Freunde erweisen sich als wertvoll
2014 entschloss sich der syrische Wissenschaftler, in die Türkei zurückzukehren und nach Jobs in Europa Ausschau zu halten. Er nahm erneut mit Scholars at Risk Kontakt auf, und dieses Mal konnte ihm das Netzwerk eine einjährige Postdoc-Stelle am Institut für Lebensmittelwissenschaften der Universität Gent in Belgien vermitteln. Das Problem war nur: Wie sollte er dorthin gelangen? Wie Ali Mohamed hatte auch Alsayed Mahmoud Kontakte in Europa. Während seines Studiums der Lebensmittelverarbeitung und Biotechnologie am Institut national polytechnique de Lorraine in Nancy, das er mit der Promotion abschloss, hatte er sechs Jahre lang in Frankreich gelebt und fließend Französisch sprechen gelernt. Mit der Hilfe eines Freundes aus jener Zeit, der beim französischen Konsulat darauf drängte, dem Syrer aus seiner misslichen Lage zu helfen, gelang es Alsayed Mahmoud, mit einem Touristenvisum nach Frankreich zu reisen. Von dort aus kämpfte er weiter um ein belgisches Visum. Er stellte Antrag auf Asyl in Frankreich, wo ihm für zehn Jahre der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde, und erhielt schließlich ein Arbeitsvisum für Belgien.
Im August 2015 konnte Alsayed Mahmoud endlich seine Stelle an der Universität Gent antreten, wo er mit exotischen Schokoladensorten zu experimentieren begann, die so außergewöhnliche Zutaten und Aromen wie etwa Kamelmilch oder Schwarzkümmelsamen enthielten. Der Forschungsbereich entsprach zwar nicht dem Spezialgebiet des Biowissenschaftlers, und seine Französischkenntnisse waren ihm im flämischen Teil Belgiens auch nicht besonders nützlich, aber er war glücklich, wieder geistig zu arbeiten und seine Laborfertigkeiten zu erweitern. Nur wenige Monate nach Antritt seiner Postdoc-Stelle bot sich dem Syrer eine Möglichkeit, in den französisch sprechenden Teil Belgiens zu wechseln: Die Université libre de Bruxelles (ULB) hatte zehn Stipendien für geflüchtete Wissenschaftler eingerichtet. Alsayed Mahmoud bewarb sich – und wurde angenommen.
Seit August 2016 arbeitet er an der Entwicklung umweltgerechter Abbaumethoden für Abfallprodukte, die bei der industriellen Verarbeitung von Kartoffeln entstehen – ein interessantes neues Gebiet, so der Syrer. "Ich kann Erfahrungen sammeln und weitere Techniken lernen." Zudem wurde seine zunächst auf ein Jahr befristete Postdoc-Stelle um ein Jahr verlängert. Dank dieser Umstände konnte sich Alsayed Mahmoud in Brüssel gut einleben. An der ULB engagiere er sich zudem als Betreuer für andere geflüchtete Postdocs, erzählt Serge Hiligsmann, Leiter der Abteilung für Biotechnologie und Bioprozesse an der belgischen Universität. 2016 reiste Alsayed Mahmoud in die Türkei, um die Witwe seines verstorbenen Bruders zu heiraten und ihren drei Kindern ein neuer Vater zu sein. Die ULB unterstützt die Familie bei der Beantragung eines belgischen Visums, und Alsayed Mahmoud hofft, dass Frau und Kinder ihm bald nach Brüssel folgen werden. "Die Menschen sind so hilfsbereit und freundlich", meint der Syrer. "Ich hatte nie das Gefühl, man würde mich nicht akzeptieren."
Ein Leben wie ein Obdachloser
Der irakische Geowissenschaftler Zamir Al Salim (sein Name wurde aus Sicherheitsgründen geändert) dagegen hat sich an der britischen Universität, die ihm eine temporäre Zuflucht bot, nie in einer solchen Weise willkommen gefühlt. Seine Erfahrungen im Ausland beschreibt er als "Gleichgültigkeit der Menschen ihm gegenüber", begleitet von einem ständigen Gefühl des Alleinseins. Die Geschichte des Flüchtlings Zamir Al Salim nahm im Juni 2014 ihren Anfang, als die islamistische Terrorgruppe ISIS in seine Heimatstadt Mossul einfiel. Der Dozent für Geowissenschaften, ein freimütiger ISIS-Kritiker, wurde bedroht und zur Zielscheibe potenzieller Mordanschläge erklärt. Als er sich entschloss, in die Türkei zu fliehen, hatte er lediglich eine Tasche in der Größe eines Aktenkoffers bei sich. Zunächst kam Al Salim bei Freunden unter, er wechselte jedoch seine Bleibe, sobald er das Gefühl hatte, seinen Gastgebern zur Last zu fallen. Arbeit konnte er keine finden, das Geld wurde knapp. Manchmal musste er die Nächte unter freiem Himmel in Parks mit anderen Flüchtlingen verbringen. "Es war ein Albtraum", erklärt Al Salim.
Im September erfuhr er von seiner Aufnahme in ein Schulungsprogramm zum Umgang mit Artefakten in Japan. Doch zunächst benötigte er Geld, um in den Irak oder den Oman zu gelangen, wo man ihm ein japanisches Visum ausstellen würde. Das Netzwerk Scholars at Risk gewährte ihm daraufhin eine finanzielle Beihilfe für die Fahrt in den Oman, während das Schulungsprogramm die Kosten für seine Reise nach Japan übernahm. Im Verlauf des zweimonatigen Kurses schaffte es Al Salim, etwa 200 US-Dollar (knapp 190 Euro) seines Zuschusses zu den Lebenshaltungskosten zu sparen, indem er täglich nur eine Mahlzeit zu sich nahm. Nach seiner Rückkehr in die Türkei vermittelte Cara ihm eine einjährige Postdoc-Stelle an einer britischen Universität. Es folgten erneute Visumschwierigkeiten, bis Al Salim schließlich im Januar 2015 an seiner Gasthochschule ankam.
"Es schien, als hätten sie lediglich den Punkt 'gute Taten' auf ihrer Checkliste abgehakt und ihn dann vergessen"Jack Westerly
Seine anfängliche Euphorie verwandelte sich allerdings recht bald in Ernüchterung. Er wurde einem Fachbereich zugeteilt, der nur wenig mit seinem eigentlichen Spezialgebiet zu tun hatte, zudem erhielt er kaum Anleitung. "Paradoxerweise behandelte man ihn sowohl sehr gut als auch äußerst schlecht", sagt Jack Westerly (Name geändert). Der in einer benachbarten Abteilung tätige Wissenschaftler hatte viele Jahre in der Stadt Mossul mit der Durchführung von Feldarbeiten verbracht. Er schloss Freundschaft mit Al Salim und sorgte dafür, dass dieser in seinen Fachbereich wechseln konnte, wo der irakische Geowissenschaftler seine während des Schulungsprogramms erworbenen Kenntnisse zur Erhaltung des kulturellen Erbes erweitern konnte. Aber Westerly zeigte sich zunehmend beunruhigt über das Fehlen eines Plans für seinen Freund. Einerseits sei es eine großzügige Geste der Universität gewesen, den irakischen Wissenschaftler aufzunehmen, meint Westerly. Jedoch "schien es, als hätten sie lediglich den Punkt 'gute Taten' auf ihrer Checkliste abgehakt und ihn dann vergessen". Zudem sorgte sich der britische Forscher um Al Salims geistige Gesundheit. Dieser habe häufig Schuldgefühle angesichts seines angenehmen und sicheren Lebens geäußert, während seine Familie und andere Flüchtlinge Not litten, erzählt Westerly. Al Salim ist unverheiratet, doch seine Eltern und Geschwister leben im Irak.
Inzwischen lief die Zeit davon. Westerly hatte die Universität zwar eindringlich um eine Vertragsverlängerung für Al Salim gebeten, aber man teilte ihm mit, die Leistungen des Irakers seien nicht zufriedenstellend. "Die Verwaltung verglich ihn mit anderen Postdocs. Die Erwartungen, die an ihn gestellt wurden, waren einfach absurd", meint Westerly.
Krank vor Heimweh
Gegen Ende 2015 hatte Cara eine andere Universität ausfindig gemacht, die sich bereit erklärte, Al Salim als Gastwissenschaftler aufzunehmen. Der irakische Forscher trat seine neue Stelle im September 2016 an, er hielt sogar Vorlesungen, doch es war ein ständiger Kampf. "Ich fühlte mich noch niedergeschlagener und einsamer und mochte nicht mehr aus dem Haus gehen. Ich sah [Berichte über] Not leidende Flüchtlinge. Allmählich glaubte ich, nicht mehr zu wissen, wer ich eigentlich bin. Das hier bin nicht ich." Im November 2016 kündigte er. "Einige baten mich nachdrücklich, meine Entscheidung zu überdenken. Ich sagte ihnen, es gehe mir einfach nicht gut." Zurück in den unter kurdischer Kontrolle stehenden Gebieten im Irak gehe es ihm jetzt besser, erklärt Al Salim, auch wenn es "schmerzlich" für ihn gewesen sei, seine Erinnerungen noch einmal zu durchleben, als er seine Geschichte der "Nature"-Redaktion via Skype erzählte.
Der Iraker lebt von seinen Ersparnissen und leistet Freiwilligenarbeit, wo immer es ihm möglich ist. "Hier treffe ich Studenten und Kinder, ich helfe ihnen, und das macht mich froh." Aber an manchen Tagen bereut Al Salim seinen Entschluss. Er schläft auf dem Fußboden, hat kein warmes Wasser und leidet häufig unter der Kälte. Dennoch fühlt er sich dort, wo er jetzt ist, mehr zu Hause als in Großbritannien. Gern würde er nach Mossul zurückkehren, doch die Stadt liegt noch immer mitten in der Kampfzone. Seine Freunde meinen, es sei zu gefährlich. "Sie sagen mir: 'Vielleicht stirbst du dort.'"
"Du musst dein Leben praktisch wieder bei null anfangen"Alsayed Mahmoud
Ali Salim ist nicht der Einzige, der sein Leben für die Heimkehr aufs Spiel setzt. Mehr als 90 Prozent der von Cara betreuten irakischen Akademiker sind mittlerweile wieder zurück in ihrem Land. Für Forscher wie Ali Mohamed ist das jedoch keine Alternative. Er würde gern in Deutschland bleiben, wo er "eine Gemeinschaft und Freunde gefunden hat". Allerdings ist er sich auch der Schwierigkeiten bewusst, einen festen Job in der deutschen Wissenschaft zu finden. Die Stellen sind knapp gesät, die Konkurrenz ist groß – insbesondere durch Kollegen, die mit der wissenschaftlichen Praxis westlicher Länder besser vertraut sind. "Viele Wissenschaftler verabschieden sich für immer aus der Forschung", erklärt Enno Aufderheide, Generalsekretär der Humboldt-Stiftung. "Einige werden Lehrer, andere vertreiben wissenschaftliche Geräte in Ländern, mit deren Kultur oder Sprache sie besonders vertraut sind."
Auch Alsayed Mahmoud weiß, dass er trotz seines europäischen Doktortitels hart kämpfen muss, um in Europa in der Wissenschaft erfolgreich zu sein. Auf Grund seines Flüchtlingsstatus ist seine Bewegungsfreiheit in der Europäischen Union eingeschränkt, was ihm gegenüber anderen Bewerbern zum Nachteil gereicht. Zudem weist sein Lebenslauf eine dreijährige Lücke auf, und mit seinen 43 Jahren ist er älter als die meisten Postdocs, die sich eventuell um ähnliche Stellen bewerben. "Du musst dein Leben praktisch wieder bei null anfangen", meint der Biowissenschaftler. Wenn die Lage in Syrien sicher wäre und es eine berufliche Perspektive gäbe, würde er in seine Heimat zurückkehren. Doch Alsayed Mahmoud hat wenig Hoffnung. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in den nächsten fünf Jahren zu einer friedlichen Lösung kommen wird", lautet seine Einschätzung. Und auch wenn seine Stelle fürs Erste gesichert ist, lindert es doch nicht seinen Schmerz über all jene Dinge, die nicht mehr da sind. "Stell dir dein Zuhause vor, dein Leben, deine Freunde, deine Geschichte – und in einem einzigen Augenblick verlierst du alles."
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