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Wissenschaftsfreiheit: »Selbstzensur darf es nicht geben«

Nur wenige überblicken die Wissenschaft so gut wie Patrick Cramer – und er ist besorgt. Im Interview spricht der Max-Planck-Präsident über die Lage in den USA, erste Anzeichen von wissenschaftlicher Selbstbeschränkung in Deutschland und notwendige, unbequeme Wahrheiten.
Eine Menschenmenge versammelt sich vor dem Brandenburger Tor. Im Vordergrund hält jemand ein Schild mit der Aufschrift "We ♥ Experts (Those with Evidence)". Der Himmel ist bewölkt, und die Szene vermittelt eine Atmosphäre des Protests bzw. der Unterstützung für wissenschaftliche Expertise.
Aus Sorge um die Wissenschaft: Beim »March for Science« gingen am 22. April 2017 unter anderem in Berlin tausende Menschen für unabhängige Forschung auf die Straße.

Herr Cramer, wissen Sie, was am 28. März 1933 irgendwo weit auf dem Atlantik an Bord des Luxusliners »Belgenland« passierte?

Nein, verraten Sie es mir?

Albert Einstein, der Direktor des Berliner Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik, des Vorläufers des heutigen Max-Planck-Instituts für Physik in Garching, verfasste an diesem Tag sein Austrittsschreiben an die Preußische Akademie der Wissenschaften. Er befand sich gerade auf der Rückreise von einem Forschungsaufenthalt in den USA. Nach Ankunft in Belgien gab er auch seine Preußische Staatsbürgerschaft auf. Wenige Monate später ging er dann von Belgien aus dauerhaft ins Exil nach Princeton an das neu gegründete Institute for Advanced Study. Was geht Ihnen als Präsident der Max-Planck-Gesellschaft durch den Kopf, wenn Sie sich diese Ereignisse heute vor Augen führen?

Dass die Wissenschaft in Deutschland bis heute unter der NS-Schreckensherrschaft und der Vertreibung vieler brillanter Köpfe jüdischer Abstammung leidet. Etliche Dinge sind letztlich in den USA und anderswo entwickelt worden, die vor der NS-Zeit in Deutschland Fahrt aufgenommen hatten. Die Molekularbiologie ist ein Beispiel: Der Biophysiker Max Delbrück hatte in den 1930er Jahren in Berlin herausgefunden, dass Gene chemische Substanzen sind. Diese Forschung hat er nach seiner Emigration 1937 in den USA weitergeführt. Politische Kräfte können der Wissenschaft großen Schaden zufügen, der jahrzehntelang nachwirkt.

Aktuell suchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den umgekehrten Weg – weg aus den USA, hin zum Beispiel nach Deutschland. Vor allem junge Forschende tragen sich einer »Nature«-Umfrage zufolge mit dem Gedanken, die USA zu verlassen. Woran liegt das: Budgetkürzungen? Angst vor Entlassung? Bedrohung von Leib und Leben? Was hören Sie aus den USA?

Einschüchterung ist ein gutes Wort, um die Lage zu fassen. Es ist nicht mehr nur Verunsicherung wie während der ersten Amtszeit von Trump. Die Leute trauen sich nicht mehr, die Dinge offen beim Namen zu nennen. Es geht dabei gar nicht nur um die Wissenschaft. Die Demokratie als Ganzes gerät in den USA gerade unter Druck.

In Deutschland wurde eine ganze Reihe von Programmen aufgelegt, die auf die Aufnahme von Forschenden aus den USA abzielen. Baden-Württemberg will 50 Nachwuchsforschende aus Harvard an die Universität Heidelberg holen, die Volkswagenstiftung hat »Transatlantische Brückenprofessuren« speziell für Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler ausgerufen, die Bundesregierung hat ein »1000-Köpfe-plus-Programm« ins Leben gerufen. Auch die Max-Planck-Gesellschaft breitet die Arme über den Atlantik aus. Was genau machen Sie für welche Wissenschaftler – und mit welchem Ziel?

»In den USA droht nicht weniger als der Verlust einer ganzen Generation top ausgebildeter Talente«
Patrick Cramer | Der in Stuttgart geborene Biochemiker war von 2014 bis 2022 Direktor des Max-Planck-Instituts für biophysikalische Chemie in Göttingen, das 2022 im neu gegründeten Max-Planck-Institut für Multidisziplinäre Naturwissenschaften aufging. Seit Juni 2023 ist er Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, der größten außeruniversitären Forschungsorganisation für Grundlagenforschung in Deutschland. Für seine Entschlüsselung der dreidimensionalen Struktur der RNA-Polymerase II, eines der größten Enzyme im Zellkern, wurde er 2006 mit dem wichtigsten deutschen Forschungspreis, dem Leibniz-Preis, ausgezeichnet.

Unser transatlantisches Programm verfolgt zwei Ziele: Das erste ist, dass wir die Beziehungen zu den USA wahren – mit etwa 1000 laufenden Forschungsprojekten ist das Land unser wichtigster Partner. Das zweite Ziel lautet: denjenigen einen sicheren Hafen bieten, die bedroht sind und ihre Forschung dort nicht weiterführen können, obwohl sie exzellent sind. Hier liegen mir vor allem junge Kolleginnen und Kollegen am Herzen, die der Wissenschaft ansonsten für immer verloren gehen könnten. In den USA droht nicht weniger als der Verlust einer ganzen Generation top ausgebildeter Talente.

Verfolgen Sie dabei auch ein Eigeninteresse? Die Max-Planck-Gesellschaft schmückt sich gern mit der Aussage, die besten Köpfe der Welt rekrutieren zu wollen. Manchmal sind die aber schwer zu bekommen. Ist das jetzt leichter geworden?

Selbstverständlich, und dazu stehen wir. Schon jetzt haben zehn Prozent von unseren rund 300 Direktorinnen und Direktoren einen US-amerikanischen Pass. Und 41 Prozent haben keinen deutschen Pass, gerade weil wir weltweit die Besten suchen. Darauf sind wir stolz.

Wie ist Ihr Transatlantik-Programm seit dem Start im April 2025 angelaufen?

Es gibt Dutzende von herausragenden Persönlichkeiten, die in Verhandlungen mit uns getreten sind. Anfang 2026 werden wir erste Namen bekannt geben.

Erhalten Sie auch Initiativbewerbungen?

Ja, auf allen Karrierestufen, beginnend mit Promovierenden und Postdocs bin hin zu Gruppenleitungen. Und genauso bekommen wir E-Mails von gestandenen Professorinnen und Professoren, die sich überlegen, aus den USA wegzugehen.

Welche Parallelen, aber auch Unterschiede sehen Sie zwischen der Situation der Wissenschaft 2025 in den USA und 1933 in Deutschland?

Der Vergleich liegt auf der Hand, aber ich habe ihn nie gezogen, und ich werde es auch nicht. Was in den 1930er Jahren in Deutschland geschah, ist so einmalig in der Geschichte, dass man sich hüten sollte, es mit einer Situation irgendwo sonst zu vergleichen – zumal 80 oder 90 Jahre später. Parallelen gibt es aber insofern, als es ein historisch schon mehrfach verwendetes Drehbuch gibt, wie man eine Demokratie hin zu einer Autokratie umbaut.

Nämlich wie?

Die unabhängige Justiz wird gefügiger gemacht, indem man Richterinnen und Richter beruft, die eine genehme politische Haltung haben. Die freie Wissenschaft wird eingeschränkt, um die Kritikfähigkeit der nächsten Generation zu unterbinden. Als Forscher lehren wir ja kritisches Denken – das soll zurückgedrängt werden. Und die Medien werden eingeschüchtert, indem zum Beispiel bekannte Moderatoren oder Sendungen abgesetzt werden, Journalisten gedroht wird oder Superreiche mit viel Geld traditionelle Medienformate aufkaufen. All dies schwächt die Demokratie.

Die Nazis wollten unter anderem die moderne Physik – Relativitätstheorie und Quantenmechanik – mundtot machen. Umgekehrt förderten sie wissenschaftlich fragwürdige Unternehmungen wie »Rassenkunde« und Eugenik. Als Reaktion auf die massive Einflussnahme des Regimes auf die Forschung haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes 1949 die Wissenschaftsfreiheit fest in unserer Verfassung verankert. Darin heißt es in Artikel 5 in schlichten Worten: »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.« Sehen Sie diese Freiheit auch hierzulande als potenziell bedroht an?

Die politischen Vertreter, die gewählt werden, haben ein berechtigtes Interesse, Themen voranzubringen, die die Wählerinnen und Wähler bewegen, zum Beispiel im Gesundheitsbereich oder der Spitzentechnologie. Hier liegt ein natürlicher Konflikt zwischen politischer Gestaltung und Wissenschaftsfreiheit, der immer wieder neu ausgehandelt werden muss. Die Lösung, die bisher in Deutschland sehr gut funktioniert hat, ist dabei recht einfach: In unseren Institutionen herrscht Wissenschaftsfreiheit …

… was bedeutet, dass die Max-Planck-Gesellschaft oder die Universitäten ihre Forschungsthemen selbst festlegen, ohne Einmischung von außen …

Genau. Und daneben gibt es für die Politik auch die Möglichkeit, eigene Anreize zu setzen. Nehmen Sie die Hightech-Agenda der Bundesregierung. Hier wurden bewusst sechs Schlüsselfelder identifiziert, von denen unsere Volksvertreter glauben, dass darin die Zukunft liegt und dass sie Innovationen, aber auch Arbeitsplätze hervorbringen werden. Das ist legitim, und diesen Spagat muss man schaffen. Was wir aber nicht dulden würden, sind Einschränkungen der institutionellen Forschungsfreiheit, die wir genießen.

Was halten Sie davon, in Deutschland nach dem Vorbild anderer Länder wie Großbritannien oder Kanada einen offiziellen Regierungsberater für Wissenschaftsthemen zu installieren, der die Expertise aus der Forschung ins Kanzleramt und Kabinett trägt und zudem der Wissenschaft auch ein Gesicht in der Öffentlichkeit gibt?

Das ist eine hervorragende Idee, für die ich mich selbst schon starkgemacht habe. Die Bundesregierung wird von mehr als 100 Organisationen beraten. Wir haben Wirtschaftsweise, die Leopoldina, die Acatech, den Zukunftsrat des Bundeskanzlers … und außerdem noch die Ressortforschung, das Robert Koch-Institut zum Beispiel. Man bräuchte nur eine Person mit einem kleinen Stab an Leuten, der dieses Universum für die politischen Entscheider erschließt. In der Pandemie wäre das ein Segen gewesen. Und ich denke, ein Kanzler müsste daran auch künftig Interesse haben, etwa bei Sicherheitsfragen, bei einer erneuten Pandemie oder bei Fragen der demografischen Entwicklung.

»Jede Regierung muss sich stets von wissenschaftlicher Evidenz leiten lassen. Wovon denn bitte sonst – Bauchgefühl?«

Müsste sich die Politik in ihren Entscheidungen noch stärker von wissenschaftlicher Evidenz leiten lassen?

Die Welt ist hochkomplex, jede Regierung muss sich stets von wissenschaftlicher Evidenz leiten lassen. Wovon denn bitte sonst – Bauchgefühl? Das heißt nicht, dass Wissenschaft den politischen Prozess ersetzt. Aber die wissenschaftliche Evidenz muss immer in den politischen Prozess eingebracht werden, und die Fakten müssen dort auch zur Kenntnis genommen werden.

Die Frage ist, wie viele Menschen dieser Evidenz überhaupt trauen. Laut dem bevölkerungsrepräsentativen Wissenschaftsbarometer schenkt in Deutschland nur gut die Hälfte der Bevölkerung der Wissenschaft ihr Vertrauen, jeder Zehnte ist entschieden misstrauisch, der Rest ist in der Vertrauensfrage unentschieden. Es gibt also ein Reservoir für Misstrauen in Teilen der Bevölkerung. Und liefert die Wissenschaft den Bürgerinnen und Bürgern nicht auch immer wieder Anhaltspunkte oder sogar Gründe dafür, die Integrität von Forschung in Zweifel zu ziehen?

Zunächst sollten wir festhalten, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verglichen mit anderen Berufsgruppen ein sehr hohes Vertrauen genießen. Trotzdem können wir nicht zufrieden sein, wir wollen auch die vielen Unentschiedenen erreichen. Ich glaube, das geht nur über die Menschen: Wir müssen die Menschen hinter der Forschung sichtbar machen. Wenn man all die jungen Forscherinnen und Forscher sieht, wie sie für ihre Sache brennen, wie sie an positiven Szenarien für unsere Welt arbeiten und wie sie mutig die großen Probleme angehen – Umwelt, Klima, Gesundheit, transparente Algorithmen –, dann erkennt man, dass sie zu einer besseren Zukunft beitragen wollen und unser aller Vertrauen verdienen.

Jetzt haben Sie nichts zu Problemen wie Replikationskrisen in Medizin, Biowissenschaften, Sozialwissenschaften, zu dem Problem der Fake Paper oder zu hartem Forschungsbetrug gesagt. Das alles gibt es ja, man muss nicht lange danach suchen. Sind das nicht Punkte, wo ein ganz normaler Bürger mit Fug und Recht sagen könnte: Ja sieh mal, was die da treiben – warum sollte man denen trauen?

Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Die Integrität der Forschung wird durch vieles bedroht. Denken Sie nur an den knallharten Druck, unter dem chinesische Forscherinnen und Forscher ihre Arbeit betreiben. Die müssen permanent abliefern, und dann kommt es eben auch zu solchen Problemen, wie Sie sie beschreiben. Auch in Europa gibt es das, wobei echter Forschungsbetrug eher selten ist. Und gerade weil die Forschungsintegrität so eng mit dem Vertrauen in Wissenschaft verknüpft ist, hängen wir sie in der Max-Planck-Gesellschaft ganz hoch. Wissenschaft ohne Integrität gibt es nicht. Wo immer die Integrität bedroht ist, ist die Wissenschaft insgesamt bedroht.

»Wissenschaft ohne Integrität gibt es nicht. Wo immer die Integrität bedroht ist, ist die Wissenschaft insgesamt bedroht«

Was unternehmen Sie, um die Integrität der Forschung zu schützen?

Wir geben unseren Wissenschaftlern Rückhalt. Vor allem die jungen stehen unter dem Druck, sich auf weltweiter Bühne beweisen zu müssen und die für ihre Karriere notwendigen großen Publikationen zu verfassen. Ihnen sagen wir: Ihr habt bei uns einen sicheren Raum, in dem ihr mit der nötigen Zeit und den Mitteln, die ihr braucht, euer Thema sauber bearbeiten könnt. Natürlich braucht es auch Ehrgeiz, Mut und kompetitiven Anreiz. Es gibt diese internationale Konkurrenzsituation, die ich aus 30 Jahren Forschungserfahrung selbst kenne, wo man dann eben auch an Weihnachten mal arbeiten muss, um vorne dabeizubleiben. Aber sie brauchen einen sicheren Rahmen, wenn sie ihre Wissenschaft auf integre Art und Weise vorantreiben wollen.

Wie gesellschaftliches Vertrauen in Wissenschaft erwächst, ist ja auch selbst Gegenstand der Forschung. Psychologen zufolge entsteht Vertrauen in Wissenschaft, wenn der Vertrauensgeber – also die Gesellschaft – den Vertrauensnehmer – die Wissenschaft oder die Wissenschaftler – in drei Dimensionen als glaubwürdig empfindet: Expertise (da ist jemand wirklich kompetent), Integrität (sie oder er arbeitet sauber und hält sich an die Regeln) sowie Benevolenz (da betreibt jemand seine Forschung aus guten Motiven heraus und verfolgt keine fremde Agenda). Laut dem Wissenschaftsbarometer geht Misstrauen in Wissenschaft vor allem mit Zweifeln an der Integrität und den guten Absichten einher. Was bedeutet das für den Dialog der Wissenschaft mit der Gesellschaft?

Ich glaube, im Dialog mit der Gesellschaft ist es vor allem wichtig zu erklären, dass wir diese Rahmenbedingungen brauchen. Dass das kein Luxusgut ist, sondern notwendig, um gute Forschung zu machen, die über Jahrzehnte trägt und nicht nur kurzfristig toll aussieht, sich aber hinterher vielleicht als zweifelhaft erweist. Und wir müssen klarmachen, warum es Ausnahmefälle sind, in denen die Integrität beschädigt wurde. Ja, es gibt sie, und sie ernten unglaublich viel Aufmerksamkeit. Doch die Tausende von Promovierenden und Postdocs, die bei uns arbeiten, und die Hunderte von Gruppenleitungen leisten alle hervorragende Arbeit für die Gesellschaft.

Alle?

Die Max-Planck-Gesellschaft hat 26 000 Mitarbeitende. Dass es Einzelne geben mag, die nicht so arbeiten wie die allermeisten anderen, lässt sich nicht ausschließen. Das wird in jeder großen Firma so sein, das ist in jeder großen Universität so. Aber man muss eigentlich erstaunt sein, dass ich in den fast zweieinhalb Jahren meiner Amtszeit bisher keinen einzigen Fall von wissenschaftlichem Fehlverhalten auf dem Tisch hatte. Ich würde annehmen, dass rein statistisch ein paar Leute dabei sind, die grobe Fehler machen. Aber bislang kam da nichts.

Vielleicht lautet die Frage, ob Ihre Sicherheitssysteme etwaiges Fehlverhalten auch zuverlässig erfassen, doch davon gehen wir jetzt einmal aus. Aber noch eine Nachfrage zur Wissenschaftskommunikation: Man könnte aus den Befunden des Wissenschaftsbarometers auch den Schluss ziehen, dass die Wissenschaft die Motive und Methoden der Forschenden stärker kommunizieren müsste, um das gesellschaftliche Vertrauen zu stärken. Gerade die Methoden sind schließlich das, was Wissenschaft von anderen Welterklärungsansätzen unterscheidet. Und es sind genau diese Methoden, die es ermöglichen, dass man Replikationsprobleme oder Wissenschaftsbetrug überhaupt aufdecken kann – weil die Methoden eben greifen …

Das stimmt. Transparenz, Ehrlichkeit, Respekt, Verantwortlichkeit, Reproduzierbarkeit – all das bildet die Grundlage unseres Arbeitens. Das müssen wir stärken und auch kommunizieren. Intern tun wir das über unsere Planck Academy, die jede Führungskraft durchläuft. Unsere Forschenden kommen aus 138 verschiedenen Nationen, und egal, was ihre kulturelle Prägung ist, unsere Standards müssen ihnen bewusst sein.

Das Wissenschaftsbarometer zeigt für Deutschland seit Jahren eine Korrelation zwischen Misstrauen in Wissenschaft und einer deutlich überdurchschnittlich ausgeprägten Sympathie für populistische Parteien. Macht Ihnen das Angst, wenn Sie an die fünf im Jahr 2026 anstehenden Landtagswahlen denken?

Das bereitet mir große Sorgen, vor allem im Hinblick auf Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, wo die populistischen Kräfte sehr stark sind. Wir müssen diese andere Realität, die in den östlichen Bundesländern herrscht und die auch historische Gründe hat, endlich zur Kenntnis nehmen. Es ist sehr wichtig zu verstehen, was die Menschen umtreibt und wo wir sie verloren haben. Ich glaube allerdings auch, dass man sie für eine demokratische Grundhaltung zurückgewinnen kann. Aber ja, das macht mir sehr große Sorgen, weil eben die AfD in ihrem Parteiprogramm bereits geschrieben hat, dass sie sich sehr kritisch mit der Wissenschaft auseinandersetzen will.

Im Programm der AfD zur Bundestagswahl 2025 steht der Satz: »Wissenschaft und Forschung müssen unabhängig von politischen, ideologischen, wirtschaftlichen und finanziellen Interessen sein.« Das ist doch fast ein Plädoyer für die Wissenschaftsfreiheit, oder wie interpretieren Sie das?

Ich interpretiere gar nichts. Ich habe mit Abgeordneten der AfD gesprochen und ganz gezielt nachgefragt. Da wurde mir zum Beispiel gesagt, dass unser Frauenförderprogramm ein politisches Programm sei. Tatsächlich sind wir in der Max-Planck-Gesellschaft überzeugt, dass wir mehr weibliche Führungskräfte benötigen. Das wird von der AfD unter dem Stichwort Entpolitisierung offen in Frage gestellt. Mit diesem Wissen liest man den Satz aus dem Programm ganz anders.

Laut den Daten des Wissenschaftsbarometers kann man Menschen mit Präferenzen für die AfD kein mangelndes Interesse an Wissenschaft vorwerfen; in dieser Hinsicht liegen sie quasi im Bevölkerungsschnitt, an Ingenieurwissenschaften sind sie sogar überdurchschnittlich stark interessiert. Man könnte sogar schließen, dass das Misstrauen der Menschen gegenüber der Wissenschaft einer ehrlichen Sorge um die Unabhängigkeit der Wissenschaft entspringt. Denn sie gehen erheblich stärker als die Anhänger anderer Parteien davon aus, dass die Politik einen viel zu großen Einfluss auf die Wissenschaft ausübt – und dass Geldgeber den Forschenden häufig vorschreiben würden, was sie kommunizieren dürfen und was nicht. Inwieweit ist diese Sorge aus Ihrer Sicht begründet?

Für die Max-Planck-Gesellschaft kann ich das vollständig entkräften. Die uns zugewiesenen institutionellen Mittel können wir frei von jeder politischen Einflussnahme für die Forschung an unseren Instituten einsetzen. Unsere Direktoren entscheiden autonom, zu welchen Forschungsfragen sie forschen wollen. Und diese Autonomie sichern wir auch gegenüber privaten Förderern durch entsprechende Verträge ab.

Und wenn Sie auf die Wissenschaft insgesamt schauen, gibt es da Anhaltspunkte für die geäußerte Skepsis, was den Einfluss von Politik und Mittelgebern angeht?

Ich mache etwas gerne an konkreten Beispielen fest, aber dazu fällt mir nichts ein. In den 1980er Jahren hieß es, die Pharmaindustrie steuere die Forschung. Aber die Wissenschaft hat ja selbst Interessen: Wir haben Forscher, die gerne bessere Krebsmedikamente entwickeln wollen. Die Industrie hat ihr eigenes Interesse: bessere Krebsmedikamente machen, weil sie da einen Markt sieht. Solange die Freiheit der Forschung gewährleistet ist, spricht nichts dagegen, dass man Medikamente gemeinsam entwickelt. Es muss nur schriftlich geregelt sein, dass es keinerlei Eingriffe gibt, was die inhaltliche Ausrichtung oder die Transparenz über die Ergebnisse angeht.

Bereiten sich die Spitzen der deutschen Wissenschaft schon auf Szenarien vor, dass in einzelnen Bundesländern vielleicht einmal eine Wissenschaftsministerin oder ein -minister von der AfD das Sagen hat?

Ja, darüber haben wir gesprochen. Die große Frage wird sein, wie die gemeinsame Wissenschaftskonferenz dann damit umgeht. Das ist unser Zuwendungsgeber, Bund und Länder sitzen hier gemeinsam an einem Tisch. Die Regel lautet, dass bis zu drei Wissenschaftsministerinnen und -minister abweichen können, und das Gremium ist immer noch handlungsfähig. Doch ab dem Moment, wo es vier Abweichler gibt, wird es schwierig, dann kann es zu einer Blockade kommen. Das bedeutet: Einzelne Bundesländer, die sich querstellen, könnte man verkraften. Aber wenn mehr als drei Stimmen einen anderen Kurs wollen, könnte die staatliche Wissenschaftsförderung in Deutschland ins Stocken geraten. Insofern ist das eine ernste Sorge.

»Dass diese Realität unbequem ist, müssen wir den Menschen und der Politik leider zumuten«

Was wäre dann mutmaßlich ein Anlass für eine Blockade? In ihrem Bundestagswahlprogramm 2025 prangerte die AfD eine »ideologisierte Klimaforschung, die Genderforschung und Pandemieforschung« an – und zwar mit dem Argument, dass diese die Bürger- und Freiheitsrechte einschränken …

Wir forschen nach den Regeln guter wissenschaftlicher Praxis und kommen zu Ergebnissen. Dann übernehmen wir die Verantwortung, diese Ergebnisse auch zu kommunizieren – inklusive der Chancen und Risiken, die sich für die Gesellschaft ergeben. Dass diese Kommunikation nicht immer bequem ist, leuchtet ein. Wenn unsere Klimaforscher zum Beispiel zu dem Schluss kommen, dass sich der CO2-Ausstoß immer weiter beschleunigt, weil wir im vergangenen Jahr zwischen drei und vier ppm Kohlendioxid zugelegt haben – ein Zuwachs, wie es ihn seit Aufzeichnungsbeginn noch nie gab –, dann ist das einfach eine Realität. Das haben wir gemessen. Dass diese Realität unbequem ist, müssen wir den Menschen und der Politik leider zumuten. Es hilft nichts, die Realität zu leugnen, wie es gerade in den USA passiert. In diesem Sinne sind wir aktiv. Aber wir sind nicht aktivistisch.

Was heißt das?

Dass daraus nicht folgt, dass wir als Wissenschaftler sagen: Okay, wir wollen euch jetzt dieses oder jenes verbieten. Wir legen Handlungsoptionen auf den Tisch. Doch welche Optionen zum Zuge kommen, entscheiden die Gesellschaft und ihre demokratisch legitimierten Vertretungen.

Beobachten Sie in Deutschland bereits Selbstzensur von Wissenschaftlern in ihrer Forschung oder in ihrer Kommunikation?

Nicht in der Breite, aber in der Tat sehen wir erste Anzeichen. Menschen sagen: Das wird mir zu heiß, ich kann ja auch etwas anderes erforschen. Solche Aussagen dringen seit Kurzem zu mir, und das bereitet mir große Sorgen. Selbstzensur darf es nicht geben, nicht in Deutschland, nicht in Europa. Wir müssen einen Raum garantieren, in dem Menschen alles frei erforschen dürfen. Gerade die gesellschaftlichen Streitthemen müssen wir wissenschaftlich beleuchten, damit die Bevölkerung in strittigen Fragen eine gewisse Klarheit und Transparenz hat.

Abschließende Frage: Auf einer Skala von 0 bis 10, wobei 0 eine völlige Aushebelung der Wissenschaftsfreiheit wie im NS-Staat bedeutet und 10 eine absolut intakte, ungetrübte Freiheit von Forschung und Lehre – wo sehen Sie die USA im Oktober 2025 und wo die Bundesrepublik?

Die USA sind in die untere Hälfte abgestürzt. Wir liegen in der anderen Hälfte relativ weit oben.

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