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Wohlstand und Zufriedenheit: Arme Gesellschaften zählen zu den glücklichsten der Welt

Für ein glückliches, erfülltes Leben braucht es weniger materiellen Wohlstand, als industrialisierte Nationen anstreben. Darin steckt eine Chance für den Planeten.
Eine Frau umarmt liebevoll ein Kind in einem spärlich eingerichteten Wohnzimmer. Beide wirken entspannt und glücklich. Im Hintergrund sind unscharf ein Tisch mit Flaschen und ein Fenster zu sehen. Die Szene vermittelt Wärme und Geborgenheit.
Wohlstand ist keine Bedingung für ein glückliches Leben. (Symbolbild)

Glück kann man nicht kaufen – so steht es auf Postkarten und Motivationspostern – und die wichtigsten Dinge im Leben sind kostenlos. Dennoch zeigt der jährlich im Frühjahr veröffentlichte »World Happiness Report« immer wieder, dass die glücklichsten Menschen in besonders wohlhabenden Ländern leben. Zudem hat die psychologische Forschung über Jahrzehnte hinweg belegt, dass persönlicher Wohlstand eng mit der empfundenen Lebenszufriedenheit zusammenhängt. Oft heißt es zwar, dass dieser Effekt irgendwann abflacht und ab einem bestimmten Punkt kein zusätzlicher Reichtum mehr nötig sei, um glücklicher zu werden. Doch neuere Studien aus den USA legen nahe, dass Menschen mit extrem hohem Vermögen ihre Lebenszufriedenheit tatsächlich höher bewerten als jene, die »nur« wohlhabend sind.

Wer hat denn nun Recht – die populären Sprüche auf den Grußkarten oder die statistischen Korrelationen? Braucht der Mensch Reichtum, um mit seinem Leben zufrieden zu sein?

Diese Frage fasziniert mich schon lange, ich halte sie für essenziell. Als Wissenschaftler, der das Zusammenspiel zwischen menschlichem Verhalten und Nachhaltigkeit untersucht, interessiert mich, ob Wohlstand tatsächlich eine Grundvoraussetzung für ein erfülltes Leben ist. Schließlich ist das Streben nach wirtschaftlichem Wachstum in den Industrieländern tief verankert. Viele Menschen nehmen sogar lieber schwer wiegende ökologische Folgen – bis hin zu einer Verstärkung der Klimakrise – in Kauf, anstatt sich für Maßnahmen einzusetzen, die ihre Wirtschaft gefährden könnten. Inzwischen bedroht unsere industrielle Zivilisation nicht nur die Umwelt, sondern das langfristige Fortbestehen komplexen Lebens auf der Erde. Befinden wir uns auf diesem selbstzerstörerischen Kurs, weil unser Glück tatsächlich davon abhängt, immer reicher zu werden?

Glücksstudien beziehen sich meist auf den Westen

Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, habe ich mich mit der Anthropologin Victoria Reyes-García von der Autonomen Universität Barcelona zusammengetan. Die meisten bisherigen Studien zur Lebenszufriedenheit konzentrieren sich auf westliche Gesellschaften und bilden damit nur einen Teil der Menschen ab. Wir wollten daher herausfinden, wie es um das Glücksempfinden von Menschen bestellt ist, die kaum auf Geld angewiesen sind.

Reyes-García leitete ein groß angelegtes Forschungsprojekt, das die Auswirkungen des Klimawandels auf kleinbäuerliche Gesellschaften untersuchen sollte. Die Studie umfasste Menschen aus ganz unterschiedlichen Regionen auf fünf Kontinenten. Viele dieser Gruppen identifizieren sich selbst als indigene Gemeinschaften und bestreiten ihren Lebensunterhalt hauptsächlich durch die Nutzung lokaler Ökosysteme – Geld spielt in ihrem Alltag kaum eine Rolle. Unser Ziel war es, knapp 3000 Menschen dieselbe Frage zu stellen: »Alles in allem, wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Leben auf einer Skala von 0 bis 10?« Diese Frage wird in vielen vergleichbaren Studien gestellt. So konnten wir die Antworten direkt mit denen aus industrialisierten Gesellschaften vergleichen.

Die von uns untersuchten Gemeinschaften haben zwar wenig Geld, aber sie sind nicht »arm« in dem Sinne, dass ihre Grundbedürfnisse nicht erfüllt würden

Der Besuch dieser Gemeinschaften war eine Herausforderung, da sie alle in äußerst abgelegenen Regionen der Erde liegen. Einige befanden sich in den Dschungeln Südamerikas, andere in den trockenen Graslandschaften Afrikas oder in den Gebirgen Südasiens. Wir übersetzten die Fragebögen in die jeweiligen Landessprachen und führten die Befragungen in persönlichen Interviews durch, die etwa eine Stunde dauerten. Die Teilnehmer wurden zufällig aus mehr als 100 Dörfern ausgewählt. Da die meisten Befragten kein regelmäßiges Einkommen hatten, beurteilten wir ihren durchschnittlichen monetären Wohlstand anhand der gekauften Haushaltsgegenstände. In den meisten dieser Gemeinschaften entsprach das einem geschätzten Einkommen von nur wenigen US-Dollar pro Person und Tag.

Das Ergebnis überraschte uns: Die Menschen in diesen Gemeinschaften sind keineswegs unglücklich – im Gegenteil, sie bewerten ihre Lebenszufriedenheit als ähnlich hoch wie die Menschen in den meisten Ländern der Welt, obwohl sie über sehr wenig Geld verfügen. Im Durchschnitt erreichten einige dieser Gemeinschaften Werte von mehr als acht von zehn Punkten und lagen damit sogar über dem Durchschnitt vieler wohlhabender Länder. Unsere zentrale Erkenntnis: Trotz eines täglichen Einkommens von nur wenigen Dollar sind viele dieser Menschen nach ihrer eigenen Einschätzung sehr glücklich.

Wieso sind Menschen mit wenig Geld zufrieden?

Doch wie passt das zu den zahlreichen Studien, denen zufolge mehr Geld mit höherer Lebenszufriedenheit korreliert? Die Menschen in reichen Ländern genießen heute einen materiellen Wohlstand, den es in der Geschichte so noch nie gab – wie kann es also sein, dass manche dieser kleinen Gemeinschaften trotzdem mehr Glück empfinden?

Unsere Ergebnisse zeigen vor allem, wie problematisch es ist, einer einzelnen Korrelation – in diesem Fall der zwischen Geld und Glück – zu viel Bedeutung beizumessen. Geld ist ein leicht messbarer Faktor, deshalb wird er in der Glücksforschung oft verwendet. Doch Lebenszufriedenheit hängt von vielen weiteren Faktoren ab. Tatsächlich fanden wir auch in den von uns besuchten Gemeinschaften eine signifikante Korrelation zwischen Lebenszufriedenheit und geschätztem Wohlstand – allerdings war der Effekt im Vergleich zu anderen Faktoren verschwindend gering. Das aus den 1970er Jahren stammende so genannte Easterlin-Paradox, benannt nach dem Glücksforscher Richard Easterlin, besagt zudem, dass ein langfristiger Anstieg des Wohlstands in einer Gesellschaft nicht zwangsläufig zu einer steigenden Lebenszufriedenheit führt.

Andere Faktoren spielen offensichtlich eine entscheidende Rolle. Frühere Studien haben insbesondere auf die Bedeutung sozialer Beziehungen hingewiesen. Als soziale Wesen sind Menschen stark darauf angewiesen, sich in ihrer Gemeinschaft sicher zu fühlen – sei es durch zwischenmenschliche Bindungen oder durch ein stabiles soziales Umfeld. Soziale Beziehungen sind allerdings nicht automatisch an Wohlstand gekoppelt. Die von uns untersuchten Gemeinschaften haben zwar wenig Geld, aber sie sind nicht »arm« in dem Sinne, dass ihre Grundbedürfnisse nicht erfüllt würden. Viele der Menschen dort verbringen zudem viel Zeit in der Natur – und zahlreiche Studien legen nahe, dass dies das Wohlbefinden fördert.

Glücksforschung nutzt zweifelhafte Metrik

Ein weiterer Aspekt betrifft die Methodik des »World Happiness Report«. Im Gegensatz zu unserer direkten Frage nach der Lebenszufriedenheit nutzt dieser Bericht die so genannte Cantril-Leiter. Dabei stellen sich die Befragten eine Leiter vor, auf deren oberster Sprosse ihr ideales Leben steht, und dann geben sie an, wo sie sich aktuell verorten. Laut neueren Forschungen führt diese Methode dazu, dass die Befragten stärker über ihr Einkommen verglichen mit dem von anderen nachdenken, während unsere Methode eher ganz direkt nach der allgemeinen Zufriedenheit mit dem Leben fragt. Es könnte also sein, dass der »World Happiness Report« eher widerspiegelt, wie zufrieden Menschen mit ihrem finanziellen Status sind und nicht unbedingt mit ihrem Leben insgesamt.

Hinzu kommt ein weiterer Faktor: In Gesellschaften mit großer sozialer Ungleichheit kann der Vergleich mit anderen das Wohlbefinden erheblich mindern. Im Gegensatz dazu sind die von uns untersuchten Gemeinschaften wirtschaftlich meist relativ gleichgestellt – ganz anders als in vielen wohlhabenden, aber von sozialer Ungleichheit geprägten Industrieländern.

Westliche Länder können von kleineren Gemeinschaften lernen

Was bedeutet das nun für uns, die wir in den Industrieländern leben? Für die meisten Menschen ist Geld notwendig, um ihre grundlegenden Bedürfnisse zu erfüllen – zweifellos bilden diese die Grundlage für ein zufriedenes Leben. Viele Länder mit niedrigem Einkommen leiden unter Korruption und extremer Ungleichheit. Große Teile der Bevölkerung leben dort in schlechten Verhältnissen, oft ohne Zugang zu sauberem Wasser, funktionierender Abwasserentsorgung oder verlässlicher Stromversorgung. In einer monetarisierten Gesellschaft ist Geld unerlässlich – und wenn man mehr davon hat, hilft das in der Regel.

Wirtschaftliches Wachstum ist keine Bedingung für Glück

Doch wie unsere Ergebnisse zeigen, braucht es für ein glückliches und erfülltes Leben weit weniger materiellen Wohlstand, als die industrialisierten Gesellschaften derzeit anstreben. Und das ist eine gute Nachricht für unseren Planeten. Eine im Jahr 2023 veröffentlichte Analyse besagt, dass es durchaus möglich wäre, weltweit allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen – mit Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Mobilität –, ohne dabei die Klimaziele aus den Augen zu verlieren.

Unsere Forschung legt nahe, dass westliche Länder in diesem Zusammenhang von kleineren Gemeinschaften lernen könnten. Der starke Fokus auf das Individuum im Westen, die gesellschaftliche Akzeptanz von egoistischer materieller Anhäufung und die zunehmende Entfremdung von anderen könnten das Glück der Menschen langfristig mindern. Vielleicht wäre der sicherste Weg zu mehr Lebenszufriedenheit in wohlhabenden Ländern, das Streben nach wirtschaftlichem Wachstum hinter sich zu lassen – und stattdessen den Wert der Gemeinschaft in den Mittelpunkt zu stellen. Ein solches Umdenken könnte nicht nur unser eigenes Glück fördern, sondern auch die Zukunft allen anderen Lebens auf unserem Planeten sicherstellen.

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  • Quellen

Deaton, A.: Income, health, and well-being around the world: Evidence from the Gallup World Poll. Journal of Economic Perspectives 22, 2008

Diener, E. et al.: Money increase subjective well-being? Social Indicators Research 57, 2002

Galbraith, E.D. et al.: High life satisfaction reported among small-scale societies with low incomes. PNAS 121, 2024

Nilsson, A.H. et al.: The Cantril Ladder elicits thoughts about power and wealth. Scientific Reports 14, 2024

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