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Wojciech Rychlewicz: Wie ein unerkannter Diplomat hunderten Juden das Leben rettete

Erst durch private Nachforschung entdeckte Bob Meth, wer seine Mutter einst vor den Nazis rettete: Der Diplomat Wojciech Rychlewicz hatte es zeitlebens für sich behalten.
Wojciech Rychlewicz (1903–1964) auf einer Fotografie nach dem Zweiten Weltkrieg.

Wojciech Rychlewicz war ein Mann aus vornehmer Familie. Groß, schlank, auf Bildern elegant gekleidet, das Haar streng nach hinten gekämmt. Seine Enkeltochter Anna Whitty, die bei seinem Tod acht Jahre alt war, erinnert sich nur verschwommen an ihn: »Er war sehr groß, und ich hatte ein bisschen Angst vor ihm. Was ich aus Familiengeschichten weiß, ist, dass er dem polnischen Adel entstammte und sehr angesehen war. Dennoch führten er und meine Großmutter nach dem Krieg ein bescheidenes Leben in London.«

Ein Diplomat rettet Leben mit falschen Zertifikaten

1964 starb Rychlewicz dort an Lungenkrebs. In einer Trauerrede wird er von einem seiner Kollegen als Mann mit starkem Sinn für Pflichtgefühl gewürdigt: »Wojciech brachte immer ein Element der Ruhe, des guten Urteilsvermögens und der klaren Entscheidungsfindung ein. […] In all dem Kriegschaos und dem Umherwandern der Menschen […] war das Haus der Rychlewicz immer offen für jene in Not, für einen Rat oder einfach nur ein Bett – ein Zuhause, das einladend und warm war.« Damit hätte Rychlewicz' Geschichte eigentlich enden können. Eigentlich.

Istanbul auf einer Postkarte um 1940 | Die Stadt in der neutralen Türkei war voll von jüdischen Geflüchteten, schreibt Ellen Meth in ihrer Biografie. Zahlreiche Länder verweigerten den Vertriebenen die Einreise.

Denn dass Rychlewicz in seiner Zeit als polnischer Diplomat in Istanbul in Wahrheit hunderten Juden dabei half, den Nazis zu entkommen, ist erst jetzt dank einer Mischung aus Glück und persönlichem Einsatz bekannt geworden. Robert »Bob« Meth hat maßgeblich dazu beigetragen, die Identität jenes Mannes zu enthüllen, der seiner Mutter und seinem Großvater ein falsches Zertifikat ausstellte und damit die Flucht ermöglichte. »Wojciech Rychlewicz war bereit, Falschaussagen zu machen und offiziell zu beglaubigen, Juden seien Katholiken – obwohl er wusste, dass das nicht stimmte. Was er tat, war heroisch«, erzählt Meth bei einem Telefonat aus seiner Heimat Kalifornien. »Ich denke, er war ein so außergewöhnlicher Diplomat wie meine Helden Sempo Sugihara und Aristides de Sousa Mendes.« Auch sie ermöglichten während des Zweiten Weltkriegs tausenden Juden die Flucht, indem sie ihnen Visa ausstellten – der japanische Diplomat Sugihara (1900–1986) in Litauen und sein portugiesischer Kollege de Sousa Mendes (1885–1954) in Bordeaux.

Und so beginnt die Geschichte, die die Biografien von Robert Meth in Los Angeles und Anna Whitty in London über den Atlantik hinweg verknüpft, in der Türkei. Genauer gesagt im Istanbul des Jahres 1940. In den Straßen der Metropole am Bosporus drängen sich zu jener Zeit mehr und mehr Menschen, die kaum ein Wort Türkisch sprechen: Es sind Geflüchtete aus Europa, vor allem Juden, die dem Vernichtungsfeldzug der Nazis zu entkommen versuchen. Ein knappes Jahr zuvor hatte Deutschland Polen überfallen und damit Europa in einen zweiten katastrophalen Weltkrieg gestürzt. Wer fliehen konnte, floh.

In Istanbul sammeln sich die Geflüchteten

Doch 1940 wird das zunehmend schwieriger. Etliche Länder verweigern Juden die Einreise oder setzen Quoten fest. Vielen bleibt nur die neutrale Türkei als Ausweg. So auch der damals 17-jährigen Ellen, der Mutter von Robert Meth, und ihrem Vater Szymon. Ellen, in Krakau als Edwarda »Tuska« Wang geboren, wuchs im polnischen Rzeszów auf und floh nach Kriegsausbruch 1939 mit ihren Eltern Szymon und Emilia zunächst ins sowjetisch besetzte Lwów (heute Lviv in der Ukraine). Doch auch hier wird die Luft zunehmend dünner, Sicherheit wird damals in Kilometer übersetzt: je weiter weg von den Deutschen, desto besser. Was Szymon und Ellen retten wird, ist eine frühere Reise in die USA, aus der sie ein noch immer gültiges amerikanisches Touristenvisums haben. Dank ihm lassen die Sowjets Vater und Tochter in die Türkei ausreisen; Ellens Mutter, die ein solches Visum nicht besitzt, bleibt bei Freunden zurück. Sie plant, sobald wie möglich nachzukommen. Dazu wird es aber nicht kommen. Von den Sowjets an einer Ausreise gehindert, wird sie später von den Nazis in Auschwitz ermordet.

Jüdisches Getto in Rzeszów | Die Nazis hatten bis Juni 1942 ungefähr 23 000 Juden im Getto eingeschlossen. Anschließend begannen die Deutschen, die Menschen in Konzentrationslager zu deportieren und zu ermorden. Das Foto zeigt Rzeszówer Juden mit Armbinde um das Jahr 1941.

In ihren Memoiren »Kaleidoscope« beschreibt Ellen Meth ihre Zeit in Istanbul: »Die Türkei zu verlassen und meine Mutter aus Polen herauszuholen, war das Hauptanliegen meines Vaters. Wie Hunderte, Tausende von anderen waren wir in Istanbul in Sicherheit, hatten aber keinen Ort, an den wir gehen konnten […] Wir verbrachten unsere Tage damit, von Konsulat zu Konsulat zu gehen, warteten in endlosen Schlangen, nur um einen Visumsantrag zu erhalten oder mit einem Beamten zu sprechen, ohne jemals ermutigt zu werden; kein Land schien geneigt zu sein, uns Zuflucht zu bieten.« Das alte USA-Visum half ihnen bei der Weiterreise nicht mehr.

Zur selben Zeit arbeitet Wojciech Rychlewicz nicht weit von ihnen entfernt als polnischer Konsul. Dass sich ihre Wege kreuzen, ist nur dem Zufall zu verdanken, der in dieser Geschichte oft Regie führte. Eines Tages begegnen Ellen und Szymon dem Sohn ihres ehemaligen Vermieters aus Rzeszów. Der erzählt ihnen, dass die brasilianische Regierung tausenden Polen Einreisevisa ausstelle. Allerdings: Die gälten nur für Katholiken. Juden hingegen mussten vorweisen, dass sie 10 000 US-Dollar besitzen, um an eines der begehrten Visa zu gelangen. Allerdings, so fährt er fort, könnten sie sich falsche Taufscheine besorgen und zum polnischen Konsulat gehen, wo ihnen ihr Status als polnische Katholiken bescheinigt würde.

Die Juden Wang werden zu Katholiken erklärt

Wie sie an die falschen Taufscheine gelangten, ist nicht bekannt. Doch wenig später gehen sie mit ihrem Dokument – Szymon wird auf seinem kurzerhand zum Sohn von Maria und Josef – zum polnischen Konsul, »der unzählige eidesstattliche Erklärungen für polnische Juden, die in der Türkei festsaßen, abgab. Er bestätigte unter Eid, dass sie Katholiken waren, wissend, dass dies nicht der Fall war, und das einzige Kriterium war, dass sie polnische oder neutral klingende Nachnamen hatten«, so berichtet es Ellen Meth in ihren Memoiren. Mit ihrem Familiennamen Wang haben Ellen und ihr Vater offenbar Glück gehabt.

Was sie nicht weiß, ist, dass der 37-Jährige, der ihre Dokumente unterzeichnet, Wojciech Rychlewicz heißt. In geschwungener Schrift macht er Juden offiziell zu Katholiken – und das wieder und wieder: Ellen und ihr Vater Szymon brachten später ihrerseits jüdische Geflüchtete zu ihm, diese wiederum weitere. Mit den Zertifikaten gelingt es beiden, Visa für Brasilien zu bekommen. Es ist das Mittel zum Zweck für ihre Ausreise. Das südamerikanische Land ist nicht ihr Ziel. Über Damaskus, Bagdad und Bombay erreichen sie schließlich die Vereinigten Staaten.

Wojciech Rychlewicz (1903-1964) | Der in Mielnikowce, heute Ukraine, geborene Rychlewicz trat mit 17 Jahren der polnischen Armee bei. Nach einem Studium in Warschau wechselte er in den diplomatischen Dienst. Bei Kriegsbeginn war er Konsul in Istanbul. Im Jahr 1941 ging er zurück zur polnischen Armee und erlebte den Kriegseinsatz in Italien, von wo aus er nach England gelangte. 1964 verstarb er im Londoner Stadtteil South Kensington.

»Schon als ich aufwuchs, erzählte meine Mutter von ihren Erfahrungen während des Krieges, intensiver dann aber nach Erscheinen ihrer Memoiren. Sie hatte es stets bedauert, die Identität des Mannes, der ihnen damals geholfen hatte, nicht zu kennen«, erzählt Meth. Die Geschichte ließ den Sohn – jüdischer Aktivist und Dozent am Holocaust-Museum in Los Angeles – nicht mehr los. Er machte sich selbst auf die Suche nach dem Unbekannten und begann sie dort, wo sich Rychlewicz' und Ellen Meths Wege das erste Mal kreuzten: in Istanbul. Zwar blieben seine Bemühungen zunächst erfolglos; doch er ließ sich nicht abbringen: »Im Judentum gibt es einen Spruch, der lautet: ›Du bist zwar nicht verpflichtet, die Arbeit zu vollenden; aber es steht dir auch nicht frei, sie zu unterbrechen.‹«

Seine Chance kommt unerwartet bei einem Galadiner in Los Angeles. Dort sitzt er am Tisch mit einem polnischen Diplomaten, dem er im Lauf des Abends von der Geschichte seiner Mutter erzählt. Wie sich herausstellt, saß Meth am richtigen Platz. Sein Gesprächspartner informierte kurz darauf Jakub Kumoch, seit 2020 polnischer Botschafter in der Türkei, der bereits von Rychlewicz ausgestellte Dokumente zu Gesicht bekommen hatte. Mitarbeiter Kumochs begannen, im Nationalarchiv in Warschau gezielt nach weiteren Dokumenten zu suchen, und wurden fündig – 100-fach. Die meisten Papiere mit der Unterschrift Rychlewicz' wurden laut Kumoch an Menschen ausgestellt, deren (Vor-)Namen auf einen jüdischen Ursprung hindeuten und die später auf Migrationslisten nach Palästina wiederzufinden sind.

Warum sprach Rychlewicz nie über seine rettenden Taten?

Wojciech Rychlewicz, der Mann, dessen Name für Ellen zeitlebens ein Rätsel bleiben sollte, war es in gewisser Weise auch für seine Familie. »Mein Großvater war ein verborgener Held. Für mich haben ihn die Enthüllungen lebendig gemacht. Ich habe jetzt das Gefühl, ihn besser zu kennen. Dafür bin ich sehr dankbar«, erzählt Enkelin Whitty. Obwohl sie vermutet, dass Rychlewicz mit seiner Ehefrau über seine Taten gesprochen hat, kann sie über die Beweggründe seines Schweigens nur spekulieren. »Diese Generation durchlebte eine traumatische Zeit. Viele sprachen nicht über ihre Erfahrungen. Mein Großvater starb außerdem jung, mit 61 Jahren.« Vielleicht, so Whitty, hätte er mit mehr zeitlichem Abstand eines Tages davon erzählt.

Odyssee nach dem Krieg | Aus Deutschland oder den von Deutschen besetzten Gebieten zu flüchten, war das eine. Wer weiter wollte, war oft auf Tricks, Bestechung oder die Großmütigkeit anderer angewiesen. Das Foto zeigt die Passagiere des Schiffs »Theodor Herzl«, die 1947 versuchten, im britisch verwalteten Palästina zu landen.

So obliegt es einer vom Krieg verschonten Generation, die Geschichten ihrer Großeltern, Mütter und Väter zu erzählen. »Es scheint ein verbreitetes Muster zu sein, dass solche Geschichten vor allem durch die Suche von Privatpersonen ans Licht kommen«, sagt Monika Maniewska, Leiterin des Archivs am Pilecki-Institut in Warschau, dessen Berliner Ableger erstmals in Deutschland über Rychlewicz' Geschichte berichtet hatte. Maniewska beschäftigt sich mit der Rolle diplomatischer Rettungsaktionen während des Zweiten Weltkriegs und weiß um die Schwierigkeit, solche Geschichten aufzudecken. »In Antwerpen etwa gibt es einige Familien mit gefälschten Reisepässen, die aus Juden Angehörige anderer Staaten machten. Doch viele Nachkommen sagen heute, sie hätten nichts davon gewusst; viele kennen diesen Teil ihrer Familiengeschichte nicht. Auch bei Rychlewicz sind bislang noch viele Dinge unklar, etwa wie viel der damalige polnische Botschafter in Ankara, Michał Sokolnicki, über Rychlewicz' Vorgehen wusste«, erklärt sie.

Forscher jagen solchen Dokumenten nach, suchen nach gefälschten Pässen, Visa, Unterschriften. Ihre Arbeit gleicht dabei einem komplexen Puzzle, dessen Teile über den halben Globus verstreut sind – ohne dass man wüsste, wo genau. Wer kann schon sagen, wie viele Geschichten noch in den Archiven darauf warten, von Historikerinnen und Historikern, Töchtern, Söhnen und Enkeln entdeckt zu werden?

Bob Meth und Anna Whitty haben kürzlich das erste Mal miteinander gesprochen. »Ich bin Bob sehr dankbar, uns verbindet vieles. Ich hoffe, dass die Taten meines Großvaters zukünftigen Generationen als Vorbild dienen können.« Nur wenige Tage bevor Whitty das sagt, erzählt Meth etwas Ähnliches: »Ich habe von Anna, ihren Brüdern und Kindern erfahren – mein Ziel wurde also erreicht. Wenn ich Schulklassen durch unser Holocaust-Museum führe, schließe ich fast immer mit einer Diskussion über Diplomaten wie Sugihara und de Sousa Mendes. Ich betone dann: ›Wenn ihr nur eins aus dem Museumsbesuch mitnehmt, dann das, was diese beiden Männer und nun auch Rychlewicz uns zeigen: Eine Person kann einen Unterschied machen. Und eines Tages könnte jemand von euch diese Person sein.‹«

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