Direkt zum Inhalt

125. Geburtstag Wolfgang Pauli: Das Pauli-Paradox

Es gab zwei Wolfgang Pauli: Der eine war der brillante Physiker und Nobelpreisträger, der andere war besessen von einer Unglückszahl – und mit mehr als 1300 Träumen das heimliche Modell des Psychoanalytikers C. G. Jung.
Zwei Schwarz-Weiß-Fotografien desselben Mannes nebeneinander. Links mit Hut und Anzug vor freiem Himmel, nach rechts schauend. Rechts derselbe Mann mit Pfeife im Mund, ebenfalls im Anzug, aber in einem Gebäude und direkt in die Kamera blickend.
Wolfgang Pauli hatte zwei Gesichter. Physiker kennen oft nur das eine, Esoteriker lieben das andere.

Die schöpferische Hochphase des genialen Physikers Wolfgang Pauli junior fiel mit einem dramatischen persönlichen Absturz zusammen. Im Jahr 1925 formulierte er sein berühmtes Ausschließungsprinzip, das noch heute jeder Physikstudierende als eines der grundlegenden Gesetze der Quantentheorie zu lernen hat. Dann, 1928, noch nicht einmal 30 Jahre alt, wurde der gebürtige Wiener zum Professor an der renommierten Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich berufen. Doch kurz zuvor hatte sich seine Mutter das Leben genommen, und wenig später zerbrach seine – kurze – Ehe mit einer Tänzerin und Kabarettsängerin. Der brillante Physiker hatte zwar schon lange einen gewissen Hang zum Exzess und war schon vor seiner Züricher Zeit als Kneipengänger bekannt. Nun aber stürzte er vollends ab. Er durchzechte ganze Nächte in Bars, trank und rauchte exzessiv. Als 1932 ob seines Absturzes sogar sein Professorenposten auf dem Spiel stand, suchte er Hilfe. Er wandte sich an einen der größten Psychiater des 20. Jahrhunderts, der nahe Zürich, in Küsnacht, praktizierte: Carl Gustav Jung.

Der deutlich ältere, zu diesem Zeitpunkt bereits 57-jährige Begründer der Analytischen Psychologie war Anfang der 1930er Jahre längst eine weithin bekannte intellektuelle Größe. Doch Jungs Faszination für Mystik und »Archetypen« – Urbilder eines kollektiven Unbewussten – war ein zweischneidiges Schwert: Einerseits bescherte sie dem nach Sigmund Freud wohl einflussreichsten Psychologen jener Epoche große Popularität, andererseits versperrte sie ihm den Zugang zur ersehnten wissenschaftlichen Welt. Und nun plötzlich stand die Wissenschaft selbst vor der Tür – in Gestalt von Wolfgang Pauli.

Der 32-jährige Physikprofessor aus Österreich gehörte neben anderen Koryphäen wie Werner Heisenberg, Paul Dirac oder Erwin Schrödinger zu den führenden Köpfen einer Forschergeneration, die gerade dabei war, unser Bild von den Geschehnissen im Allerkleinsten, im physikalischen Mikrokosmos, für immer zu revolutionieren. Bereits als Schüler in Wien hatte sich Wolfgang als Wunderkind erwiesen. Als 19-Jähriger schrieb er eine 200 Seiten starke Abhandlung über die Relativitätstheorie – die Albert Einstein, ihr Schöpfer, in den höchsten Tönen lobte.

Mit 21 Jahren wurde Pauli an der Universität München promoviert. Mit 24 arbeitete er in Kopenhagen an der Weiterentwicklung der Quantenmechanik unter dem großen Niels Bohr. Und mit 25 formulierte er schließlich das später nach ihm benannte Prinzip, wonach sich zwei Fermionen, zum Beispiel zwei Elektronen eines Atoms, nie im gleichen Quantenzustand befinden können – ein fundamentaler Satz, der unter anderem erklärt, warum Neutronensterne nicht unter ihrer eigenen Schwerkraft zusammenfallen können. Das Pauli-Prinzip brachte ihrem noch fast jugendlichen Schöpfer in Fachkreisen schnell den Spitznamen »Zweistein« ein – und 1945 den Nobelpreis für Physik.

Was nützt dem Genie alle Anerkennung, wenn die Seele leidet?

Doch was nützt dem Genie alle Anerkennung, wenn die Seele leidet? Als Pauli Hilfe bei C. G. Jung suchte, waren die Wartezeiten für einen Termin bei dem prominenten Seelenarzt lang. Pauli musste zunächst mit einer Assistentin des Meisters, Erna Rosenbaum (1897–1957), vorliebnehmen, bis nach einigen Monaten Jung persönlich die Analyse von Paulis Träumen übernahm. Das tat er für zwei Jahre. Ende 1934 war es Pauli, der die Therapie abbrach. Die ungewöhnliche Verbindung der beiden Geistesgrößen nahm freilich erst jetzt so richtig Fahrt auf – lange Zeit unbemerkt von der Wissenschaftsgeschichtsschreibung.

C. G. Jung | Der Psychiater und Psychoanalytiker ist der Begründer der Analytischen Psychologie. Was er seinen Zeitgenossen verschwieg: Eine äußerst ergiebige Quelle für seine Traumanalysen war der Physiker Wolfgang Pauli.

Einen ersten Hinweis auf die tiefe Beziehung der beiden Männer lieferte das 1952 gemeinsam von Pauli und Jung in der Reihe »Studien aus dem C. G. Jung-Institut Zürich« veröffentlichte Büchlein »Naturerklärung und Psyche«, zu dem der Physiker einen Essay über den Astronomen Johannes Kepler beisteuerte, der sich mit alchemistischen und mystischen Motiven in dessen Weltanschauung befasste. Der Titel: »Der Einfluss archetypischer Vorstellungen auf die Bildung naturwissenschaftlicher Theorien bei Kepler«.

Die große Offenbarung erfolgte jedoch erst 34 Jahre nach Paulis Tod: 1992 wurde seine Korrespondenz mit Jung veröffentlicht. Es stellte sich heraus, dass Jung in mehreren seiner Arbeiten fast ausschließlich auf die Analyse von Paulis Träumen zurückgegriffen hatte – ohne deren wahre Quelle auch nur einmal zu erwähnen. Pauli hatte Jung im Lauf der Jahre mehr als 1300 seiner Träume zur Verfügung gestellt. Wie die Jung-Expertin Beverley Zabriskie, selbst Psychoanalytikerin und zeitweilig Präsidentin der Jungian Psychoanalytic Association in New York, ironisch bemerkt, studierten Jungs Leser, ohne es zu ahnen, das Unbewusste anhand der inneren Welt des Physikers Wolfgang Pauli – der quasi den Modellorganismus für Jungs Traumdeutungen abgab.

Wissenschaftshistorischer Paukenschlag

Doch die größte Überraschung für Wissenschaftshistoriker: Über Jahre hinweg führte Pauli, der große Theoretiker, parallel zu seiner Tätigkeit an renommierten Institutionen intensive Gespräche mit Jung: über Telepathie, Numerologie, Astrologie und andere Themen, die mit dem Bild eines seriösen Wissenschaftlers eher nicht vereinbar sind.

Die bittere Ironie: Der späte Ruhm in Esoterikerkreisen feiert Pauli genau für das, was ihm zutiefst zuwider war

Nach ihrer Enthüllung wurde diese »Nachtseite« Paulis – wie der Heidelberger Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer sie nennt – rasch zu einem festen Bestandteil der pseudowissenschaftlichen und esoterischen Szene. »Pauli bewies« und »Pauli glaubte«: So beginnen viele der posthum dem Physiker zugeschriebenen Behauptungen, von der »quantenphysikalischen Natur« des Bewusstseins bis hin zur Macht der Gedanken über die Materie und die angeblich physikalisch bewiesene Einheit von Geist und Kosmos. Die bittere Ironie dabei: Dieser späte Ruhm in Esoterikerkreisen feiert Pauli genau für das, was ihm zutiefst zuwider war.

Schon in der frühen Karriere, als er noch den Zusatz junior im Namen trug, galt Pauli unter Kollegen als das »Gewissen der Physik« – so der Untertitel einer 1988 erschienenen Aufsatzsammlung zu Pauli und seinem Werk. Seine kompromisslose Orientierung an höchsten Standards wissenschaftlicher Logik war geradezu gefürchtet. Der schwedische Physiker Oskar Klein (1894–1977), der mit dem 22-jährigen Pauli bei Niels Bohr in Kopenhagen arbeitete, erinnerte sich darin: »Er war zu einer Institution geworden, der man seine Einfälle zum strengsten Urteil vorlegte.«

Klassenfoto | Bei einer Fachkonferenz in Kopenhagen trafen sich 1930 einige der wichtigsten Physiker ihrer Zeit, darunter in der ersten Reihe von links bis zur Mitte nebeneinander sitzend: Christian Klein, Niels Bohr, Werner Heisenberg und Wolfgang Pauli.

Als sein Freund Werner Heisenberg einmal in einem Interview eine noch unvollendete Theorie bis auf ein paar technische Details als fast fertig bezeichnete, reagierte Pauli mit ätzender Ironie. Statt eines Kommentars skizzierte er ein leeres Rechteck mit der Bildunterschrift: »Das soll der Welt zeigen, dass ich wie Tizian malen kann. Es fehlen nur die technischen Details.«

Mit gleicher Strenge ging er an seine eigene Arbeit heran. Da er ausschließlich Ergebnisse gelten ließ, die er für vollständig abgesichert hielt, veröffentlichte er zeitlebens wenig. Viele seiner scharfsinnigen Ideen und brillanten Einsichten finden sich verstreut in seiner umfangreichen Korrespondenz mit anderen Wissenschaftlern, nicht jedoch in Fachpublikationen.

In seinen parallel zur weiteren Karriere verfassten Briefen an Jung finden sich hingegen Motive und Begriffe, die eher der Denkweise eines Schwurblers als der eines streng rational denkenden Naturwissenschaftlers entsprechen. So thematisierte er parapsychologische Phänomenе, extrasensorische Wahrnehmungen oder auch eine metaphysische Verbindung von Geist und Materie.

Kontaktlos Experimente sabotieren

Im persönlichen Umgang mit Kollegen legte Pauli ebenfalls manch seltsam anmutende Überzeugung an den Tag. So war er felsenfest sicher, durch seine bloße Präsenz kontaktlos auf Gegenstände einwirken und ganze physikalische Versuche zum Scheitern bringen zu können. Dieses Phänomen, in Paulis Umfeld scherzhaft als »Pauli-Effekt« betitelt, äußerte sich zum Beispiel darin, dass Technik in seiner Anwesenheit wie von Geisterhand versagte: Experimente misslangen, Maschinen und Geräte gingen zu Bruch, sobald der Theoretiker im Raum war.

Pauli selbst deutete diese Zufälle symbolisch. So stürzte 1948, während der Eröffnungsfeier des C. G.Jung-Instituts Zürich, just in dem Moment, als Pauli auf der Bildfläche erschien, eine große chinesische Blumenvase um und verursachte eine kleine Überschwemmung. Ausgerechnet zu dieser Zeit beschäftigte sich Pauli mit dem Werk des Alchemisten und Mystikers Robert Fludd (1574–1637) – dessen Name im Englischen »Flut« bedeutet – und spielte damit.

Regelrecht besessen war Pauli von einer Zahl, die er als seinen »persönlichen Dämon« bezeichnete: 137. Diese taucht – gerundet – als Nenner in der 1916 von Arnold Sommerfeld in die Physik eingeführten Feinstrukturkonstante auf, eine dimensionslose Zahl, die die Stärke der elektromagnetischen Kraft wiedergibt. Bis zu seinem Tod war Pauli wie gefangen von dieser Zahl. Als er am 5. Dezember 1958 mit der Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs in ein Züricher Krankenhaus eingeliefert wurde und bemerkte, dass sein Patientenzimmer die Nummer 137 trug, sagte er sofort: »Hier komme ich nicht mehr lebend heraus.« Zehn Tage später verstarb er ebendort.

Physiker im Dialog | Arnold Sommerfeld (links) und Wolfgang Pauli waren zwei prägende Gestalten der Atom- und Quantenphysik des 20. Jahrhunderts. Die Faszination für die Zahl 137, die – gerundet – der Kehrwert der sommerfeldschen Feinstrukturkonstante ist, ließ Pauli zeitlebens nicht los.

Wolfgang Paulis Biografie zeigt: Auch ein hochkarätiger Vertreter der exakten Naturwissenschaften ist nicht davor gefeit, außerhalb seines Fachgebiets fragwürdigen Überzeugungen anzuhängen. Wissenschaftlich Unbeschlagenen würde man ihren Glauben an das Irrationale nachsehen und ihm keine besondere Bedeutung beimessen. Bei einem berühmten Physiker allerdings wächst die kleinste Neigung zum Mystizismus unter dem Brennglas der öffentlichen Wahrnehmung zu einer Sensation heran. Doch es gibt noch eine tiefere Deutung von Paulis Nachtseite, die erstmals der Wissenschaftshistoriker Juan Miguel Marin von der Harvard University 2009 im »European Journal of Physics« vorbrachte.

Als die Quantenphysik noch in ihrer Sturm-und-Drang-Phase war – während der 1920er und 1930er Jahre –, fand sich die neue Wissenschaft in einem Spannungsfeld zwischen Herkunft, also der klassischen Physik, und Zukunft. Im Sprachgebrauch der Physiker wurden präzise Formeln mit schillernden Metaphern versehen, die teils aus Philosophie und Religion stammten. Als Pauli zum Beispiel die Radioaktivität mit der alchemistischen Transmutation verglich und den Atomkern als »Philosophischen Stein« bezeichnete, stand er damit keineswegs allein. Auch Einstein war sich bekanntlich sicher, dass Gott nicht würfelt, und wollte damit ausdrücken, dass die Gesetze des Universums keinen Zufall zulassen könnten.

Dieser bildhafte Zeitgeist in der noch jungen Disziplin erlosch jedoch nach dem Machtantritt der Nazis, die eine tiefe Aversion gegen die als zu abstrakt empfundene Quantenphysik hegten und diese – ihrer antisemitischen Weltanschauung folgend – auch als »jüdische Wissenschaft« schmähten. Viele führende Physiker, der berühmteste unter ihnen Albert Einstein, fürchteten um ihr Leben und emigrierten, die meisten in die USA. In diesem neuen Umfeld nahm die Quantenphysik ihre endgültige Gestalt an, wobei die wissenschaftliche Sprache zunehmend nüchterner und formaler wurde.

Lebensgefahr in der NS-Zeit

Pauli, der nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 automatisch deutscher Staatsbürger geworden war, befand sich wie viele seiner Kollegen in einer gefährlichen Lage. Als Sohn eines jüdischen Vaters war er selbst in der Schweiz nicht sicher. Nachdem sein Antrag auf Einbürgerung zweimal abgelehnt worden war, siedelte auch er 1940 von Zürich in die USA über.

Dort schlug er aber keine Wurzeln und kehrte 1946 bei erster Gelegenheit nach Europa zurück. Im amerikanischen Exil war er freilich in Briefen und Tagebüchern seiner gewohnten symbolischen Sprache treu geblieben. Wie Werner Heisenberg anmerkte, war Pauli sich stets bewusst, dass er sich lediglich Metaphern bediente. Heute jedoch wird seine bildhafte Sprache in entsprechenden Milieus oft wörtlich aufgefasst, ja missverstanden oder gar missbraucht.

Besonders Anhänger der New-Age-Bewegung machen den nobelpreisgekrönten Physiker nur allzu gern zum Gewährsmann ihrer spekulativen Weltsicht. Der Pauli-Effekt dient ihnen als vermeintlicher Beleg für Psychokinese, während seine Träume von der Weltseele kurzerhand als Bestätigung herhalten müssen, dass das Bewusstsein die Realität forme. Auch Deepak Chopra, ein indisch-amerikanischer Autor einschlägiger Werke über alternative Medizin, zieht Pauli heran, um seine These von der »Quantenheilung« – jener angeblichen Fähigkeit des Geistes, physische Krankheiten zu heilen – mit einem wissenschaftlichen Anstrich zu versehen.

Ein weiterer Einfluss aus den Zeiten der Quantenrevolution, der Paulis Interesse an Fragen jenseits der Physik weckte, war die Debatte über den so genannten Quantenmystizismus. Sie begann 1927, als Einstein einige frühe Interpretationen der Quantenphysik als »mystisch« bezeichnet hatte, da sie seiner Meinung nach die Grenzen der Wissenschaft sprengten. Der Schöpfer der Relativitätstheorie war zeitlebens ein kritischer Begleiter der Quantenmechanik und beäugte etliche ihrer weltanschaulichen Implikationen mit Misstrauen, darunter das Zufallsprinzip und das Phänomen der Quantenverschränkung.

Wie real ist die Wirklichkeit?

In der klassischen Physik galt die Annahme, dass man im physikalischen Experiment stets eine objektive Realität beobachtet, die unabhängig vom Beobachter existiert. Elektronen, Photonen und andere Quantenobjekte verletzen jedoch alle möglichen Regeln: Sie können in mehreren Zuständen gleichzeitig existieren, können im Vakuum spontan entstehen und wieder verschwinden oder können ihre Eigenschaften allein durch die Art und Weise gewinnen, wie diese gemessen werden.

All das stellte für die Quantenphysiker die traditionelle Konzeption einer objektiven Wirklichkeit in Frage und trieb ihre Interpretationen bis an den Rand der Mystik. Wenn die Realität so stark vom Beobachter abhängt, bedeutet das dann, dass auch unser Bewusstsein nicht die Welt wahrnimmt, sondern diese erst erzeugt?

Das Bewusstsein, das lange als rein philosophischer oder psychologischer Begriff galt, wurde überraschenderweise zu einem Problem der Wissenschaft der unbelebten Materie, der Physik. Diese Entwicklung inspirierte Pauli, einen naturwissenschaftlichen Zugang zum Bewusstsein zu suchen. Und in C. G. Jung fand er einen Gegenüber, der sich dem Phänomen seinerseits von psychologischer Seite näherte.

Pauli schenkte Jung mehr als nur seine Träume: Er eröffnete ihm eine völlig neue Perspektive auf die Welt

Pauli schenkte Jung mehr als nur seine Träume: Er eröffnete ihm eine völlig neue Perspektive auf die Welt, aus der damals revolutionärsten aller Wissenschaften. Das blieb nicht ohne Wirkung: Paulis Einfluss prägte maßgeblich zentrale Elemente von Jungs Theorien, vor allem die Idee der der Synchronizität – der Versuch, bedeutungsvolle Zufälle nicht als bloße Koinzidenzen zu deuten, sondern als Manifestation eines universellen, nicht kausalen Wechselwirkungsgesetzes.

Gegen Ende der 1940er Jahre kamen Pauli jedoch erste Zweifel: Was als konstruktiver Austausch zwischen Psychologie und Physik begonnen hatte, entwickelte sich immer mehr in Richtung spekulativer Philosophie. Das ließ ihn zunehmend skeptisch werden.

Im Jahr 1954 brachte er seine Ernüchterung in einem Brief an den Physiker Max Born zum Ausdruck – durch einen Vergleich mit fruchtlosen Gedankenübungen der mittelalterlichen Scholastik: »Ob etwas, worüber man nichts wissen kann, doch existiert, darüber soll man sich doch wohl ebenso wenig den Kopf zerbrechen, wie über die alte Frage, wie viele Engel auf einer Nadelspitze sitzen können.« Ein Jahr später endete die jahrzehntelange Korrespondenz mit Jung.

Die Vorhersage des Neutrinos

Für einen theoretischen Physiker gehört das Gedankenexperiment zur täglichen Arbeit. Daher war Pauli durchaus offen für gewagte Ideen, betont der 1984 geborene US-amerikanische Astrophysiker und Wissenschaftsphilosoph Adam Becker. Manche theoretischen Konstrukte konnten über Jahre sorgfältig entwickelt werden und tragen Namen wie »Vereinheitlichte Feldtheorie« oder »Verschränkung«. Andere entstanden flüchtig an einem Nachmittag und verschwanden dann wieder. Doch der entscheidende Punkt blieb: Jede Annahme musste sich an der Realität messen lassen. Ein geradezu perfektes Beispiel dafür ist Paulis visionäre Idee der Existenz eines neuen Elementarteilchens, welchem sein Physikerkollege Enrico Fermi später den Namen Neutrino schenkte, kleines Neutron.

Als er 1930 abermals eine persönliche Krise durchmachte, stand auch sein Fach, die Physik, gerade wieder vor einer neuen Herausforderung. Es galt den Beta-Zerfall zu erklären. Bei dieser Art radioaktiven Zerfalls wandelt sich ein Neutron im Atomkern unter Freisetzung eines Elektrons in ein Proton um. Pauli erkannte, dass der Energieerhaltungs- und der Impulserhaltungssatz nur erfüllt sein können, wenn zusätzlich ein weiteres – noch unbekanntes – Elementarteilchen entsteht.

Die Eigenschaften dieses rätselhaften Teilchens schlussfolgerte Pauli aus den beobachteten Effekten. Es musste elektrisch neutral sein, eine extrem geringe Masse besitzen und nur äußerst schwach mit Materie wechselwirken – sonst hätte es sich längst irgendwie direkt bemerkbar gemacht.

Heute wissen wir, dass Neutrinos zu den häufigsten Teilchen im Universum gehören und im kosmischen Geschehen sogar eine Schlüsselrolle spielen. Doch bis in die 1950er Jahre konnte das Geisterteilchen auf Grund seiner speziellen Eigenschaften nicht einmal nachgewiesen werden. Und obwohl Fermi bereits 1934 eine schlüssige theoretische Grundlage für die Existenz des Neutrinos geliefert hatte, hielt sich Pauli lange Zeit geradezu für schuldig, etwas postuliert zu haben, was sich weder bestätigen noch widerlegen ließ.

Späte Bestätigung

Erst 1956, zwei Jahre vor Paulis Tod, gelang es den US-amerikanischen Physikern Clyde Cowan und Frederick Reines, mit Hilfe leistungsstarker Kernreaktoren und neuartiger Detektoren das Neutrino endlich dingfest zu machen. Pauli vernahm die Kunde mit Genugtuung. Mit dieser Nachricht war das »närrische Kind der Lebenskrise«, wie Pauli das mehr als ein Vierteljahrhundert zuvor von ihm postulierte Elementarteilchen selbst nannte, endgültig rehabilitiert.

Als Antwort an die findigen Experimentalkollegen in den USA ließ Pauli ein Telegramm mit einem Zitat von Leo Tolstoi versenden: »Alles kommt zur rechten Zeit für den, der zu warten weiß.« Doch aus irgendeinem Grund erreichte die Nachricht die USA nicht. Der berüchtigte Pauli-Effekt hatte ein letztes Mal zugeschlagen.

WEITERLESEN MIT »SPEKTRUM +«

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen Premiumartikeln von »spektrum.de« sowie »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Testen Sie 30 Tage uneingeschränkten Zugang zu »Spektrum+« gratis:

Jetzt testen

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.