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News: Wortsuche im Millisekunden-Takt

Die menschliche Sprache ist das Ergebnis zweier sehr schnell ablaufender Vorgänge im Gehirn. Sie besteht aus dem Abruf geeigneter Einträge aus einem "mentalen Lexikon" sowie der Vorbereitung dieser "Einträge" für das eigentliche Sprechen.
Jeder Mensch lernt Sprechen, und das bedeutet vor allem: Wörter zu produzieren. Wächst er in der westlichen Kultur auf, hat er als Erwachsener bereits bis zu 50 Millionen Wörter gesprochen. Es gibt kaum eine andere Tätigkeit, die wir so oft praktizieren.

Bei einer Unterhaltung sprechen wir etwa zwei bis vier Wörter pro Sekunde. Diese werden fortlaufend aus unserem "mentalen Lexikon" abgerufen, das mehrere zehntausend "Einträge" enthält. Bei diesem Vorgang machen wir erstaunlich wenig Fehler (und sagen zum Beispiel "links" statt "rechts"), etwa alle Tausend Wörter einmal. Doch wie ist dieser so robuste und schnelle Sprachmechanismus organisiert?

Wissenschaftler erklären die Sprachproduktion als ein System zweier aufeinanderfolgender Verarbeitungsschritte. Im ersten Schritt erfolgt die Wortauswahl: Erhält das Gehirn einen bestimmten Reiz, zum Beispiel von den visuellen Zentren, wählt es einen dazu passenden lexikalischen Eintrag aus dem mentalen Lexikon.

Der zweiten Schritt behandelt die Formenkodierung und berechnet die artikulatorischen Gesten, die für die Aussprache des Zielwortes benötigt werden. Willem Levelt und sein Team vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen bestätigten das Modell jetzt experimentell und setzten diese Theorie in einem Computerprogramm mit dem Namen WEAVER++ um.

Ein wichtiges experimentelles Verfahren zur Erforschung des lexikalischen Zugriffs im Gehirn ist das Benennen von Bildern. Auf dem Monitor erscheint ein Bild, zum Beispiel "Pferd", das die Versuchsperson so schnell wie möglich benennen soll. Hierbei wird die Reaktionszeit – die Zeit zwischen dem Erscheinen des Bildes und dem Beginn des Sprechens – exakt gemessen. Diese liegt normalerweise bei 600 Millisekunden. Für die Auswahl und Aussprache eines Wortes brauchen wir also weniger als zwei Drittel einer Sekunde.

Die Wortauswahl selbst erfolgt in zwei Teilstufen: Zuerst wird das Bild erkannt und ein Zielkonzept für die Benennungsaufgabe ausgewählt. Die Tests können so gesteuert werden, dass die Versuchspersonen entweder "Pferd", "Tier" oder "Hengst" auswählen, um das Bild zu benennen.

In der zweiten Stufe, der so genannten "Lemma-Selektion", wird der hiermit übereinstimmende Eintrag gewählt, also zum Beispiel nur "Pferd". Das Wort "Lemma" bedeutet soviel wie "syntaktisches Wort", es enthält also alle syntaktischen Eigenschaften wie Wortklasse (Substantiv, Verb usw.) und syntaktische Merkmale (wie Geschlecht bei Substantiven, transitive Beschaffenheit bei Verben). Diese Wortauswahl erfolgt in Konkurrenz zu anderen Wörtern. Die Wissenschaftler konnten messen, dass semantisch verwandte Wörter, wie "Tier" oder "Hengst", bei diesem Schritt ebenfalls aktiviert werden.

Das Computerprogramm sagt nun die Reaktionszeit für eine Wortauswahl unter Konkurrenz voraus. Überprüft werden diese in spezifischen Bildbenennungsexperimenten: Dabei werden den Versuchspersonen beim Bildbenennen – visuell oder akustisch – andere Wörter präsentiert. Diese Ablenkung müssen sie ignorieren.

Die Versuchsperson reagiert beim Hören von nicht verwandten Wörtern etwas langsamer. Bei semantisch verwandten Wörtern wird jedoch eine viel stärkere Verzögerung gemessen, zusätzlich etwa 50 bis 100 Millisekunden. Diesen sogenannten "semantischen Verzögerungseffekt" bestätigten die Forscher in ihren Experimenten. Durch Messungen mit der Magnetenzephalographie stellten sie außerdem fest, dass bei der Lemma-Auswahl Regionen im linken lateralen temporalen Lobus aktiv sind.

Nun folgt der zweite Schritt, die Wordformen-Kodierung. Dazu muss zuerst der phonologische Code abgerufen werden, das heißt eine Reihe phonologischer "Segmente", zum Beispiel " p, f, e, r, d". Bei geläufigen Wörtern wird der phonologische Code schneller als bei selten benutzten Wörtern abgerufen. Bei der Bildbenennung kann der Zugriff dadurch erleichtert werden, dass der Versuchsperson zeitgleich phonologisch verwandte Wörter präsentiert werden.

Ist das Abrufen des Codes aus dem mentalen Lexikon abgeschlossen, erfolgt die Silbenbildung. Diese wird Phonem für Phonem zusammengestellt. Wird das Zielwort jedoch im Plural benötigt (beispielsweise wenn zwei Pferde auf dem Bild zu sehen sind), werden nacheinander zwei Silben gebildet. Das schrittweise Zusammenstellen der Silben dauert etwa 25 Millisekunden pro Phonem. Sind mehrsilbige Wörter zu bilden, wird die Reaktionszeit der Testpersonen länger.

Die letzte Stufe ist schließlich das phonetische Kodieren, das Abrufen eines artikulatorisch-motorischen Programms für jede neugebildete Silbe. Levelt nimmt an, dass dazu ein mentaler Silbenvorrat existiert, ein "Lager" an Gesten oder motorischen Programmen für häufig benutzte Silben. Die Vermutung liegt nahe, dass beim Speichern häufig gebrauchter Silben der prämotorische Cortex beteiligt ist. Die faktische Ausführung der aufeinanderfolgenden Silbenprogramme generiert dann das gesprochene Wort.

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