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Covid-19: Mehr Totgeburten während der Pandemie

Neue Daten zeigen, dass Schwangere weltweit während der Covid-19-Pandemie seltener zum Arzt gehen als sonst. Auch finden weniger Vorsorgeuntersuchungen statt. Mit fatalen Folgen.
Eine schwangere Frau verdeckt ihr Gesicht mit den Händen

Es ist ein beunruhigender Trend: Seit Beginn der Coronavirus-Pandemie ist der Anteil der Schwangerschaften, die mit einer Totgeburt enden, deutlich angestiegen. Das zeigt eine Reihe von Studien aus verschiedenen Teilen der Welt. Forscherinnen und Forscher vermuten als Ursache, dass in einigen Ländern schwangere Frauen auf Grund von Einschränkungen im Gesundheitssystem wesentlich weniger Vorsorgeleistungen erhalten als nötig. Infolgedessen bleiben entsprechende Komplikationen, die zu Totgeburten führen können, möglicherweise unerkannt. »Wir haben einen Anstieg der Totgeburten verursacht, während wir versucht haben, [schwangere Frauen] vor Covid-19 zu schützen«, sagt Jane Warland, eine Spezialistin für Hebammen an der University of South Australia in Adelaide.

Die größte Studie, die über einen Anstieg der Totgeburtenrate berichtet hat und auf Daten von mehr als 20 000 Frauen basiert, die in neun Krankenhäusern in ganz Nepal entbunden haben, wurde am 10. August 2020 in The Lancet Global Health veröffentlicht. Darin wurde berichtet, dass die Zahl der Totgeburten von 14 pro 1000 Geburten vor dem Lockdown Ende März auf 21 pro 1000 Geburten bis Ende Mai anstieg – um 50 Prozent also. Der stärkste Anstieg war in den ersten vier Wochen des Lockdowns zu beobachten, in denen die Menschen ihre Häuser nur verlassen durften, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen.

Die Studie, die von Ashish K. C., einem perinatalen Epidemiologen an der Universität Uppsala, Schweden, und seinen Kollegen geleitet wurde, ergab, dass die Rate der Totgeburten zwar sprunghaft anstieg, die Gesamtzahl jedoch während der Pandemie unverändert blieb. Dies lässt sich dadurch erklären, dass weniger Frauen zur Geburt ins Krankenhaus kamen: Die Zahl der Krankenhausgeburten von durchschnittlich 1261 Geburten pro Woche vor dem Lockdown hat sich auf 651 halbiert. Zudem ergaben sich bei einem höheren Anteil der Krankenhausgeburten während des Lockdowns Komplikationen. Die Forscher wissen nicht, was mit Müttern, die nicht im Krankenhaus entbunden haben, und deren Babys geschehen ist. Etwa ob die Rate der Totgeburten bei diesen Frauen auch angestiegen ist.

»Nepal hat in den letzten 20 Jahren bedeutende Fortschritte bei der Gesundheit von Frauen und ihren Babys gemacht, aber in den vergangenen Monaten haben diese nachgelassen«
Ashish K. C., Epidemiologe

Der Anstieg des Anteils der Totgeburten unter den Krankenhausgeburten sei zumindest nicht durch Covid-19-Infektionen verursacht worden, sagt K. C. Möglicherweise konnten Schwangere mangels öffentlicher Verkehrsmittel nicht zu Gesundheitseinrichtungen fahren; in einigen Fällen wurden Vorsorgetermine abgesagt. Andere hätten vielleicht Krankenhäuser aus Angst vor einer Ansteckung mit Sars-CoV-2, dem Virus, das Covid-19 verursacht, gemieden oder sich per Telefon oder Internet beraten lassen.

Die durch die Pandemie ausgelösten Unterbrechungen von regelmäßigen Arztbesuchen wurden bereits mit einem Anstieg der Todesfälle durch Herzkrankheiten und Diabetes in Verbindung gebracht. »Nepal hat in den letzten 20 Jahren bedeutende Fortschritte bei der Gesundheit von Frauen und ihren Babys gemacht, aber in den vergangenen Monaten haben diese nachgelassen«, sagt K. C.

Globaler Kollateralschaden der Pandemie

Die Geburtsdaten aus einem großen Krankenhaus in London zeigten einen ähnlichen Trend. Im Juli berichteten Asma Khalil, Geburtshelferin am St George’s, University of London, und ihre Kollegen über einen fast vierfachen Anstieg der Totgeburten im St George’s Hospital, von 2,38 pro 1000 Geburten zwischen Oktober 2019 und Ende Januar dieses Jahres auf 9,31 pro 1000 Geburten zwischen Februar und Mitte Juni.

Khalil nennt dies den Kollateralschaden der Pandemie. Sie sagt, dass schwangere Frauen während der Lockdowns wahrscheinlich Komplikationen entwickelt hätten, die nicht diagnostiziert wurden. Möglicherweise hätten sie zudem gezögert, bei Komplikationen in ein Krankenhaus zu gehen, und seien deshalb erst zu spät von Ärzten untersucht worden. Je später Komplikationen entdeckt werden, umso niedriger sind die Erfolgschancen einer Intervention.

Vier Krankenhäuser in Indien berichteten ebenfalls über einen Anstieg der Totgeburtenrate während der Abriegelung des Landes. Wie in Nepal gingen auch hier weniger Frauen zur Entbindung in die Krankenhäuser. Die Überweisungen von Frauen, die eine Notfall-Schwangerschaftsversorgung benötigten, gingen ebenfalls um zwei Drittel zurück. Dies deute den Autoren zufolge darauf hin, dass mehr Geburten unbeaufsichtigt, zu Hause oder in kleinen Einrichtungen stattfanden. Schottland – eines der wenigen Länder, das monatlich Daten über Totgeburten und Säuglingstod erhebt – hat ebenfalls einen Anstieg der Totgeburtenrate in den Monaten der Pandemie festgestellt.

Ultraschall geht nicht per Telefon

In normalen Zeiten empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation, dass Frauen während der Schwangerschaft – auch wenn die Schwangerschaft als risikoarm beurteilt wird – mindestens achtmal von medizinischem Fachpersonal untersucht werden, um Probleme zu erkennen und zu behandeln, die der Mutter, dem Baby oder beiden schaden könnten. Ein Großteil des Risikos einer Totgeburt kann abgewendet werden, wenn Frauen ab der 28. Schwangerschaftswoche auf der Seite schlafen, mit dem Rauchen aufhören und ihre Hebamme oder ihren Arzt benachrichtigen, wenn sich ihr Baby weniger bewegt. Das letzte Trimester der Schwangerschaft ist für regelmäßige Gesundheitskontrollen besonders wichtig, Frauen werden aber in der Regel während der gesamten Schwangerschaft auf Risikofaktoren wie eingeschränktes fetales Wachstum und Bluthochdruck hin untersucht.

»Frauen mit Bluthochdruck werden nicht so behandelt, wie wir es normalerweise tun würden«
Jane Warland, Spezialistin für Hebammen

Als die Pandemie zuschlug, empfahlen die Berufsverbände für Müttergesundheitsdienste, einige persönliche Konsultationen durch Telefonate und Videokonsultationen zu ersetzen, um Frauen vor dem Coronavirus zu schützen. Doch das Gesundheitspersonal kann nicht aus der Ferne den Blutdruck von jemandem messen, den Herzschlag des Babys hören oder einen Ultraschall durchführen, sagt Warland. Aus diesem Grund könnten Risikoschwangerschaften unerkannt geblieben sein, sagt sie, insbesondere bei Erstmüttern, die nicht wissen können, wie sich eine Anomalie anfühlt.

Zum Beispiel berichteten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des St George’s Hospitals, während des Lockdowns seien weniger schwangere Frauen mit Bluthochdruck zu ihnen gekommen. Dies deute darauf hin, dass »Frauen mit Bluthochdruck nicht so behandelt werden, wie wir es normalerweise tun würden, und unerkannter Bluthochdruck ist ein Risikofaktor für Totgeburten«, sagt Warland.

Bessere Schwangerenvorsorge dringend nötig

Die Studien zeigen die Notwendigkeit, die Gesundheitsversorgung für Mütter und Neugeborene zu unterstützen, insbesondere in Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen, sagt Caroline Homer, Hebammenforscherin am Burnet Institute in Melbourne, Australien. »Dies ist nicht der Moment, solche Dienste zu reduzieren«, betont sie. Homer sagt, dass in der gesamten asiatisch-pazifischen Region Ärzte und Pfleger, die normalerweise Schwangerenvorsorge anbieten, mit Covid-19 beschäftigt seien und dass entsprechende Arztpraxen und Kliniken den persönlichen Kontakt mit schwangeren Frauen reduziert haben. An einigen Orten seien die Dienste vollständig geschlossen worden, sagt sie.

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

Pat O’Brien, die Vizepräsidentin des Royal College of Obstetricians and Gynaecologists in London, sagt, dass die Gründe für diesen Anstieg der Totgeburtenrate noch genauer untersucht werden müssen. »Uns sind Einzelfälle schwangerer Frauen bekannt, die sich spät mit reduzierten fetalen Bewegungen vorstellen, was ein Zeichen dafür sein kann, dass es ihrem Baby nicht gut geht, sowie Fälle von Frauen, die Vorsorgetermine versäumten. Dies kann auf Verunsicherung darüber zurückzuführen sein, ob diese Termine als notwendige Reisen gelten, auf die Angst vor einem Krankenhausaufenthalt oder darauf, das Gesundheitssystem nicht belasten zu wollen«, führt O’Brien aus.

Will man die konkreten Auswirkungen der Pandemie auf Schwangerschaften verstehen, bräuchte es mehr Daten aus der Bevölkerung und nicht nur aus Krankenhäusern; ebenso, um beurteilen zu können, wie es werdenden Müttern erging, die zu Hause oder in kleineren Einrichtungen entbunden haben, sagt Emily Carter, Forscherin im Bereich der öffentlichen Gesundheit an der Johns Hopkins University in Baltimore, Maryland. »Manchmal übersehen wir, wie schlimm die Situation für bestimmte Bevölkerungsgruppen schon vor der Pandemie war«, sagt Carter.

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