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News: Zuwachs im Neandertal

In einem kleinen, malerischen Tal bei Düsseldorf steht die Wiege der Paläoanthropologie. Der Neandertaler, dessen sterbliche Überreste vor 150 Jahren das Bild des Menschen auf den Kopf stellte, war jedoch nicht allein.
Schädel
Der Bauwirtschaft ging es glänzend. Immer mehr Fabrikhallen schossen aus dem Boden, immer mehr Eisenbahnlinien durchzogen das Land. In der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die industrielle Revolution auch das Rheinland erreicht.

Vor allem der Hunger nach Kalk war enorm – und den gab es reichlich in einem kleinem, beschaulichen Tal, in dem sich die Düssel ihren Weg zum nur 13 Kilometer entfernten Düsseldorf bahnt. Das Neandertal avancierte zu einem bedeutenden Lieferanten für Kalkstein.

Der Name des Tals löst heute jedoch ganz andere Assoziationen aus, denn im Jahr 1856 stießen zwei Steinbrucharbeiter auf ein menschenähnliches Skelett – und begründeten damit die wissenschaftliche Paläoanthropologie. Der Fund, der als Typusexemplar "Neandertal 1" in die Wissenschaftsgeschichte einging, ließ sich zunächst nur schwer deuten. Galt er erst als Überbleibsel eines krummbeinigen Kosaken aus den napoleonischen Kriegen, setzte sich erst nach und nach die Erkenntnis durch, dass das Skelett von einem frühen menschlichen Wesen stammen könnte. Schließlich schlug der britische Geologe William King 1863 den Namen Homo neanderthalensis vor. Heute wird der Neandertaler weniger als eigene Art, sondern meist als Unterart – Homo sapiens neanderthalensis – angesehen.

Leider hatten die Arbeiter, denen die Bedeutung ihres Fundes nicht klar war, nur die größten Knochenstücke, wie Schädeldach und Teile der Oberschenkel- und Armknochen, aufgehoben. Der Rest wanderte auf eine Abraumhalde und entzog sich damit der wissenschaftlichen Forschung. Auch der Fundort, die Kleine Feldhofer Grotte, ist durch den Steinbruchbetrieb längst zerstört.

Doch 141 Jahre später, im Jahr 1997, konnte Ralf Schmitz von der Universität Tübingen die Abraumhalde im Neandertal lokalisieren – und wurde tatsächlich fündig. Zusammen mit anderen Wissenschaftler barg der Anthropologe 62 Knochenfragmente, darunter auch ein Schädelstück, das nahtlos in das Schädeldach von 1856 passt. Die Vermutung, hier die sterblichen Überreste eines einzigen Individuums gefunden zu haben, lag nah.

Auch die jetzt durchgeführte Radiokarbon-Datierung unterstützte diese Annahme: Alle Knochenfragmente sind etwa 42 000 Jahre alt – und damit gleich alt wie das Typusexemplar Neandertal 1.

Die genetischen Analysen der mitochondrialen DNA aus den Knochenfragmenten ergaben jedoch ein anderes Bild: Demnach hatten mindestens drei Individuen im Neandertal ihre letzte Ruhe gefunden. Und ein Milchzahn unter den Fundstücken zeigte, dass darunter auch ein Kind war.

Die "anrührende Erklärung", auf eine Neandertalerfamilie gestoßen zu sein, weist Schmidt jedoch zurück. Vermutlich waren die drei Individuen nicht enger miteinander verwandt, und trotz der genauen Datierung könnten noch viele Jahrhunderte zwischen ihren Lebzeiten gelegen haben.

Aber immerhin kann jetzt das Neandertal nicht nur als Wiege der Paläoanthropologie gelten, sondern auch als einzige Fundstelle aus dem Pleistozän mit Überresten von mehr als einem menschlichen Individuum, die damit eine Grundlage für weitere genetische Untersuchungen liefert. Wären die Funde bereits 1856 komplett geborgen worden, dann wäre nach Ansicht der Forscher "die Geschichte der Humanpaläontologie sicherlich anders verlaufen".

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