Direkt zum Inhalt

Molekulare Evolution: Zwei plus zwei macht drei

Ohne ihn würde gar nichts laufen. Trotzdem scheint manchen der Schlüssel zu den Genen seltsam schief. Nicht bestreiten wiederum lässt sich, dass er seinen Dienst gut und nicht erst seit gestern verrichtet. Aber: Wie kam dieses Buch mit vier hoch drei Siegeln überhaupt in die Welt?
Kode
Als Marshall Nirenberg und Har Gobind Khorana 1966 auf dem Symposium in Cold Spring Harbor vor das gelehrte Publikum traten, war das Jahrhundertwerk vollbracht. Zum ersten Mal stellten sie der Öffentlichkeit den vollständig entschlüsselten genetischen Kode vor und fassten damit die Pionierarbeit der frühen sechziger Jahre zusammen. Die Sprache der Gene war verstanden.

Mühsam hatten sie und ihre Wegbegleiter Wort für Wort entziffert, künstliche Ribonukleinsäuren gebastelt und sie im Reagenzglas in kurze Proteinketten übersetzt. AAAAAAAAAAAA ergibt Lysin-Lysin-Lysin-Lysin, aus CCCCCCCCCCCC entsteht Prolin-Prolin-Prolin-Prolin, aus GAGAGAGAGAGA Glutamat-Arginin-Glutamat-Arginin und so fort.

So fanden sie heraus, dass jedes genetische Wort aus drei Buchstaben besteht – oder auf fachmännisch: Ein Triplett von Basen der DNA beziehungsweise der Boten-RNA bildet ein Kodon. Für die Identifikation solch eines Kodon ist das passende Antikodon von Transfer-RNAs zuständig: Am Ribosom dolmetschen diese tRNAs je ein Nukleinsäure-Kodon in je einen Proteinbaustein, eine Aminosäure – beispielsweise AGC in Serin.

Genetischer Kode | Heute Basiswissen, vor vierzig Jahren eine Sensation: der genetische Kode. Die Aminosäuren einer Spalte werden allein durch die zweite Base bestimmt, sie ähneln sich hinsichtlich ihres chemischen Verhaltens; "term" bezeichnet die drei Stopp-Kodons.
Die fertige Tafel des Kodes zeigte dann: 64 Kodons – so viele Dreierkombinationen lassen sich mit den vier Nukleinsäure-Buchstaben bilden – stehen für 20 Aminosäuren. Wo die noch junge Zunft der Molekularbiologen in den folgenden Jahren auch nachschaute, alle untersuchten Lebewesen gebrauchten den genetischen Kode buchstabengetreu in der gleichen Weise. Die frappierende Universalität des Kodes galt schnell als einer der überzeugendsten Beweise für den gemeinsamen Ursprung allen Lebens.

Einige Kratzer musste die goldene Regel inzwischen zwar hinnehmen – ein paar Bakterien und auch unsere Mitochondrien pflegen bezüglich einer oder zwei Aminosäuren einen abweichenden Übersetzungsstil –, dennoch stimmt das einheitliche Bild im Großen und Ganzen noch immer. Das Wesentliche scheint also gesagt.

Doch auch auf diesem offenbar abgeackerten Feld wollen Forscher noch Fußnoten der Wissenschaftsgeschichte ergattern. Denn Rätsel und Staunen gibt es noch immer. Wieso 64 Kodewörter für nur 20 verschiedene Aminosäuren? Manchmal stehen gleich vier oder gar sechs Kodons für nur eine Aminosäure. Handhabt die Natur da ihre Informationsverwaltung nicht etwas verschwenderisch? Schon 1968 vermutete der Mitenthüller der DNA-Struktur Francis Crick, es handle sich wohl um einen etwas subotimal ausgefallenen "eingefrorenen Zufall" der Evolution.

Die britischen Biochemiker Huan-Lin Wu, Stefan Bagby und Jean van der Elsen lasen den Kommentar des Altmeisters zum Problem der Herkunft des Triplett-Kodes noch ein wenig weiter. Der mutmaßte, dass es zuerst einen Einerkode gab – nur vier Basen, also vier Kodons als Schlüssel für anfangs lediglich vier Aminosäuren –, dann einen Duplett-Kode, zwei Basen mit 16 möglichen Kodon-Kombinationen, und letztlich einen Triplett-Kode.

Wenn aber ein Urorganismus irgendwann sein Leseraster von zwei auf drei umgestellt hätte, überlegte Crick, wäre das wohl tödlich verlaufen: Plötzlich hätten alle Gene völlig andere und damit unbrauchbare Proteine produziert. So würden etwa die Wörter AG, CC, TT zu AGC, CTT. Crick spekulierte daher, auch im Duplett-Stadium könnten die Ribosomen die RNA schon in Triplett-Schritten erfasst haben – nur dass eben bloß zwei Basen gelesen wurden, von AGC etwa AG-, A-C oder -GC.

Vor- und Nachsilbenduplett | Vorsilben- und Nachsilbenduplett (rechts) erkennen je zwei RNA-Basen.
Immer drei RNA-Basen vorwärts und dabei nur zwei lesen. Aber welche? Die mittlere muss auf jeden Fall dabei sein, behaupten die britischen Wissenschaftler der Universität Bath, denn die wäre im Einer-Kode schon die entscheidende gewesen. Noch im heutigen Kode genügt allein die mittlere Base eines Kodons, um grob die chemische Eigenschaft einer Aminosäure festzulegen. So besitzen alle Aminosäuren, deren Kodon -A- lautet – also mit einem Adenin in der Mitte des Tripletts – einen überwiegend polaren chemischen Charakter.

Für das Duplett-Stadium bleiben demnach als Ergänzung zur Mittelposition entweder der vordere oder der hintere RNA-Buchstabe als Alternativen. "Als Kodon fungierten beide – sowohl das vordere als auch das hintere Duplett", ist die überraschende Antwort der drei Biochemiker.

"Der gegenwärtig fixierte Kode ist ein Kompromiss zwischen einem möglichst reichhaltigen Vokabular und einem System, das Übersetzungsfehler vermeidet"
(Jean van der Elsen)
Wenn zur mittleren Base die erste hinzu kommt – van der Elsen spricht vom Vorsilben-Duplett – könnten die vier mal vier möglichen Kombination 16 Aminosäuren verschlüsseln. Lediglich acht zusätzliche Kombinationen liefert das Nachsilben-Kodon. Ursache ist, dass der die Mittelposition ergänzende letzte Basenbuchstabe ein etwas legeres Ablesen erfährt. Unterschieden werden nicht alle vier RNA-Buchstaben, sondern nur zwei Paare: die jeweils chemisch verwandten C und U einserseits sowie A und G andererseits. Insgesamt summieren sich aus Vor- und Nachsilben-Kodons also 24 Kodewörter. Zieht man noch das Stopp-Kodon für den Abbruch der Proteinsynthese ab, ist mit 23:20 das Ideal-Verhältnis ein Kodon zu einer Aminosäure fast erreicht.

Um zu erkären, wie die beiden Chiffriersysteme nebeneinander existieren konnten, greifen van der Elsen und seine Kollegen noch tiefer in die Theoriekiste. Nicht am Ribosom selbst habe sich der Kode etabliert, sondern beim Bepacken der Transfer-RNAs mit den Aminosäuren. Das Aufladen der Proteinbausteine vollziehen spezielle, sehr wählerische Enzyme: Synthetasen.

Sie beachten für jede Aminosäure genauestens das Antikodon der Transfer-RNA. Vor Jahrmilliarden hätte von diesen Enzymen die eine Sorte Vorsilben-Dupletts, eine zweite Nachsilben-Dupletts erkannt, glaubt van der Elsen. Der Blick in eine Strukturdatensammlung gibt ihm Recht: Noch heute gibt es zwei Spielarten dieser Synthetasen, jede nähert sich dem Antikodon von einer anderen Seite her.

Auch im aktuellen Triplett-Kode entdecken die Briten Relikte der molekularen Urzeit. Die Aminosäuren Prolin, Valin und Alanin sind allein mit den Vorsilben-Kodons CC-, GU- beziehungsweise GC- hinreichend definiert. Beim Nachsilben-System allerdings hat die Evolution die Spuren stärker verwischt – doch es gibt sie. Dem exotischen Bakterium Thermus thermophilus genügen die zweite und dritte Kodon-Base zur Identifikation der Aminosäure Aspartat.

Forscher | Positionieren sich schon mal auf helikal geschraubter Kulisse: die Biochemiker Stefan Bagby, Jean van der Elsen und Huan-Lin Wu (von links)
Einmal warm gelaufen, spuckt der Denkapparat der Briten obendrein noch eine Hypothese über den Ursprung des Lebens aus. Heiß war er gewesen, meinen sie. Das folgern sie aus einer weiteren Besonderheit archaischer Mikroben – denen fehlen Synthetasen für die Aminosäuren Asparagin und Glutamin. Wahrscheinlich gab es sie auch im letzten gemeinsamen Vorfahren aller Organismen noch nicht.

Asparagin und Glutamin sind die hitzeempfindlichsten Proteinbausteine. Wenn sie vor vier Milliarden Jahren noch fehlten, spricht das für ein ziemlich warmes Zuhause unseres einzelligen Urahnen: Wahrscheinlich habe er in heißen Quellen oder brodelnden Schwefeltümpeln gelebt, tippt van der Elsen. Erst nach dem Auswandern in kühlere Gefilde habe sich allmählich der heutige Kanon von 20 Aminosäuren etabliert.

Der genetische Kode, eigentlich Inbegriff der Kontinuität in einem Meer des Wandels, war vermutlich auch nach dem Übergang vom Zweier- zum Dreier-Kode noch eine ganze Zeit in Bewegung. Dennoch sind es am Ende nur 20 und nicht 60 Aminosäuren geworden. "Der gegenwärtig fixierte Kode ist wohl ein Kompromiss zwischen einem möglichst reichhaltigen Vokabular und einem System, das Übersetzungsfehler vermeidet", schätzt van der Elsen.

Die vielen bedeutungsgleichen Kodons sind nämlich keineswegs Verschwendung. So zeitigen falsche Paarungen oder Mutationen bei der ersten und dritten Base im Triplett selten drastische Konsequenzen. Und – welche Kriteleien spitzfindigen Kombinatorikern bezüglich des Kodes auch einfallen mögen – an der Hauptsache ist einfach nicht zu rütteln: Er funktioniert seit Ewigkeiten.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.