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Staudamm-Rückbau: Zweite Chance für die Verdammten

Alte Staudämme zu entfernen, ist weltweit geradezu in Mode, denn es hat verblüffende Folgen für die Natur. In Deutschland aber bleibt der Nutzen begrenzt.
Schritt für Schritt wurde auch der Glines Canyon Dam zurückgebaut

Eigentlich war spätestens im Jahr 1978 die Zeit abgelaufen für den Elwha-Damm: Das Kraftwerk an der Staumauer lieferte schon längst nicht mehr genügend Strom für die Papiermühle im Ort. Und dann war die 33-Meter-Mauer auch noch bei einer Sicherheitsprüfung durchgefallen. Obendrein stand er auf dem Gebiet der Lower Elwha Klallam, und der Stamm wollte seine Fischgründe zurück: Hunderttausend Lachse waren einst den Elwha-Fluss hinaufgeschwommen und hatten die Menschen mit Nahrung versorgt – der Damm hatte die Zahl der Fische auf einen kümmerlichen Rest reduziert.

Die Behörden im Bundesstaat Washington kalkulierten, dass jede Ertüchtigung des 1913 erbauten Damms unwirtschaftlich wäre verglichen damit, den Elwha-Damm einfach niederzureißen. Und am besten den 13 Kilometer weiter flussaufwärts gelegenen Glines-Canyon-Damm im Olympic National Park gleich mit.

Dennoch dauerte es ganze 14 Jahre, bis die finale Entscheidung fiel. Bis dahin hatten um ihr Hobby fürchtende Sportfischer und Bootsbesitzer erbitterten Widerstand geleistet. Und es vergingen noch einmal rund zwei Jahrzehnte, bis endlich die Pläne für den Abriss ausgearbeitet und umgesetzt wurden: Zwischen 2009 und 2014 wurden die beiden Dämme Schritt für Schritt entfernt und das Wasser aus den Stauseen gelassen.

Erstmals seit einem Jahrhundert stand den Lachsen und Forellen ein Flusslauf von nicht mehr nur acht, sondern gut 120 Kilometern zur Verfügung. Die Fische nutzten diese Chance praktisch sofort: Kurz nachdem der untere Damm vollständig abgerissen war, wanderten im September 2013 bereits wieder 1200 Königslachse oberhalb der einstigen Staumauer flussaufwärts. Im Sommer 2016 wurden im Oberlauf des Flusses drei Lachs- und eine Forellenart gefunden, unterwegs zu ihren alten Laichgründen. Der Fischreichtum des Stamms der Lower Elwha Klallam kehrte anscheinend erheblich schneller zurück als erwartet.

Lockstoffe für Fische

Darüber wundert sich Jörg Freyhof vom Museum für Naturkunde (MfN) in Berlin überhaupt nicht: »Flüsse sind schließlich sehr dynamische Systeme, die sich laufend verändern«, erklärt der Spezialist für Süßwasserfische. Anders als Menschen, die seit jeher versuchen, die Flüsse zu »zähmen«, sind die meisten Bewohner dieses Lebensraums gut an seine Veränderlichkeit angepasst. Verlagert ein Hochwasser das Flussbett oder reißen Menschen einen Damm ab, nutzen sie die sich ihnen bietende Gelegenheit sofort.

So auch am Elwha-Damm, wo die Forellen und Lachse einem uralten Instinkt folgend einfach flussaufwärts schwammen. »Wanderfische werden von der Strömung regelrecht nach oben gezogen«, sagt Freyhof.

Andere Fische orientieren sich eher mit ihrem Geruchssinn. Die Larven der Neunaugen geben einen Lockstoff ab, den die Erwachsenen an der Flussmündung erschnuppern. Das lockt sie flussaufwärts, denn wo solche Larven ihr Auskommen finden, dürfte auch der eigene Nachwuchs eine Chance haben. Ihr Ziel verfolgen die urtümlich wirkenden Fische extrem hartnäckig: »Noch ein halbes Jahrhundert nach dem Bau eines Staudammes stehen zum Beispiel Neunaugen unter der Mauer und warten auf ihre Chance«, erklärt Jörg Freyhof. Solange die Fische unterhalb eines Damms oder in anderen Flüssen ihren Nachwuchs bekommen können, gewinnen sie daher ihre einst verlorene Heimat rasch zurück.

Ein Strand entsteht

Wird die Staumauer eingerissen, lernen aber nicht nur die Wanderfische wieder das Wandern, es verändert sich ebenfalls die Landschaft. Schließlich hat der Staudamm auch den Schwebstoffen im Wasser und den Kieselsteinen im Flussbett den Weg versperrt. Im Laufe der Jahre sammeln sich erhebliche Mengen davon im ruhigen Wasser des Stausees – satte dreißig Millionen Tonnen im Fall der beiden Stauseen am Elwha-Fluss, überwiegend grobes Material aus Sand, Kies, Geröll und nur zu einem Drittel feiner Schluff und Ton.

Die Mündung des Elwha-Flusses | Weil die Dämme das Sediment zurückhielten, schrumpfte die Küstenlinie immer weiter. Das Foto aus dem Jahr 2014 zeigt, dass sich das Mündungsdelta bereits weiter ins Meer vorschiebt – rund 400 Meter inzwischen.

Die Massen, die oben am Fluss die Seen bis hin zur Unrentabilität auffüllen, fehlen oft unten an der Flussmündung. Wo der Elwha-Fluss in die Juan-de-Fuca-Straße mündet, nagen die meist aus Nordwesten anrollenden Wellen Tag und Nacht an der Küste. Weil der Materialnachschub fehlte, war die Küstenlinie im Bereich des Mündungsdeltas seit 1939 um rund 160 Meter zurückgewichen.

Jetzt haben sich sogar wieder Strände gebildet. Knapp fünfeinhalb Millionen Tonnen neuer Sedimente haben sich inzwischen mehr als einen Meter hoch abgelagert und die Küstenlinie um rund 400 Meter meerwärts geschoben.

Mehr als 1600 Dämme und Wehre wurden in den USA entfernt, in Europa fast 5000

Allerdings hatte der Sedimenttransport auch seine Schattenseiten. Größter Kostenpunkt des Rückbauprojekts waren zwei nagelneue Trinkwasseraufbereitungsanlagen. Bislang hatte sich die Kleinstadt Port Angeles, die an der Elwha-Mündung liegt, immer beim Fluss direkt bedient. Das war wegen der vielen Schwebstoffe nun nicht mehr ohne Weiteres möglich.

Nährstoffe für Land und Meer

Der Rückbau der Dämme am Elwha-Fluss hat sich nicht nur aus Sicht der wandernden Fische und des Küstenschutzes rentiert. Insgesamt hat das gesamte Ökosystem am Fluss und auch weit jenseits der Ufer von dieser Maßnahme erheblich profitiert. Beispielsweise ernährt der Lachs in seinen verschiedenen Lebenszyklen mehr als 130 Arten von Insekten, Fischen, Vögeln und Säugetieren, am prominentesten sind die Grizzlys, die im Herbst massenweise fette Lachse aus dem Wasser ziehen. Tappen die Bären später vom Ufer weg, düngen sie mit ihrem Kot auch das Umland fernab der Flüsse mit Nährstoffen, die aus den Lachsen stammen. »Verenden die wandernden Fische nach dem Ablaichen, bringen sie dem Oberlauf der Flüsse viele Nährstoffe und helfen so dort der Biodiversität auf die Sprünge«, sagt Ruben van Treeck, der am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) in Berlin die Auswirkungen von Wasserkraftanlagen auf das Ökosystem der Flüsse Europas untersucht.

Der Glines-Canyon-Damm staute am Elwha den Lake Mills auf | Im Olympic-Nationalpark gelegen war der Staudamm mit seiner Besucherterrasse Anziehungspunkt für Touristen. Aber auch er wurde im Zuge der Renaturierungsmaßnahmen abgebaut – als bislang größter freiwillig abgerissener Staudamm der Welt.

Nur wusste bisher niemand so genau, wie stark dieser Effekt ist und welche Organismen von der Renaturierung des Gewässers überhaupt profitieren. Der Abriss der Staudämme am Elwha-Fluss bot den Forschern daher eine willkommene Gelegenheit, den Einfluss einer solchen Maßnahme auf das Ökosystem zu studieren. Schon vor Beginn der Arbeiten erfassten Mitarbeiter des Geologischen Dienstes der USA und des Olympic-Nationalparks, gemeinsam mit den Angehörigen der Lower Elwha Klallam, die Verbreitungsmuster der Arten und die Tiervorkommen im gesamten Umland.

Bereits in den ersten beiden Jahren nach dem Rückbau der Dämme entdeckten die Forscher zahlreiche Arten, die ihre alte Heimat rasch zurückeroberten. »Das waren nicht nur charismatische Arten wie der Lachs, sondern auch viele Insekten, Spinnen und andere Gliedertiere«, erklärt IGB-Forscher Ruben van Treeck. Pumas, Luchse, Nerze, Fischotter und weitere Säugetiere, außerdem Vogelarten wie die Wasseramsel profitierten ebenfalls sehr vom Rückbau der Dämme. Teils gab es großräumige Veränderungen: So verschob sich im Mündungsdelta des Flusses das Artenspektrum von den Lebensgemeinschaften des Brackwassers hin zu einem Süßwasserökosystem. Sogar im Meer, in das wieder die aufgestauten Nährstoffe eingeschwemmt wurden, pulsierte das Leben, und die Orcas in der Juan-de-Fuca-Straße erbeuteten mehr Heringe.

»Neben viel Licht gab es aber auch etwas Schatten«, sagt von Treeck. So ärgerten sich die Sportangler, dass die von ihnen gehegten Arten verschwunden waren. Außerdem nutzen einige pflanzliche und tierische Invasoren aus fremden Ländern ihre Chance und besiedelten den wiedergewonnenen Lebensraum schneller als die ursprünglichen Arten. Um eine solche Entwicklung zu bremsen, hatten die Mitarbeiter nach Abfluss der Stauseen auf den frei gelegten Böden 320 000 einheimische Gewächse gepflanzt und mehr als drei Tonnen Samen ausgebracht. Ganz wollte man die Renaturierung also doch nicht der Natur überlassen.

Staudamm-Abrissboom

Der Abriss der beiden Dämme am Elwha-Fluss war zwar das bisher größte, aber keineswegs das einzige Projekt dieser Art. So wurden in den vergangenen 100 Jahren mehr als 1600 Dämme und Wehre aus den Flüssen der USA entfernt. Auf mehr als 36 000 Kilometern können sich die Flüsse Nordamerikas durch diesen Rückbauboom wieder frei entwickeln, berichtet die Flussschutz-Organisation Riverwatch in Wien. Nicht nur die ökologischen Erfolge können sich sehen lassen: Allein in der Tourismus- und Erholungsbranche entstanden dadurch 219 000 Jobs. Die wirtschaftliche Wertschöpfung stieg in betroffenen Gemeinden um elf Milliarden US-Dollar, fasst Riverwatch zusammen.

»An den Gewässern Österreichs befindet sich im Durchschnitt alle 900 Meter ein Damm«Ulrich Eichelmann, Riverwatch

Als am Penobscot River im US-Bundesstaat Maine 2014 zwei Staudämme entfernt und an den verbliebenen Dämmen Fischtreppen eingebaut wurden, kehrte nicht nur der Atlantische Lachs in die jetzt wieder zugänglichen 3200 Flusskilometer zurück, auch der Hering erlebte eine Hochphase: Bereits zwei Jahre nach Abschluss der Arbeiten tummelten sich statt weniger tausend rund 1,8 Millionen Heringe im Fluss, berichtet Riverwatch. Und als am Chipola River in Florida im Dezember 1987 ein Damm entfernt wurde, zählten die Forscher laut Riverwatch statt vorher 34 Arten nachher 61, also fast doppelt so viele.

Die Dämme Europas

An Europa ist der Abrissboom ebenfalls nicht vorbeigegangen. Schließlich blockieren auch hier mehr als eine Million Dämme und Wehre wandernden Fischen die Wege, wie Karten der Umweltschutzorganisation Dam Removal Europe eindrucksvoll zeigen. Viele davon sind gleichfalls in die Jahre gekommen. Vor allem aber sind hier zu Lande wandernde Arten wie der Europäische Lachs vom Aussterben bedroht. Da einige Überlebende noch vor der französischen Atlantikküste schwimmen, wurde Frankreich zum Hotspot des Dammrückbaus in der Alten Welt. So wurden an zwei Nebenflüssen der Loire 1998 mit großem Erfolg zwei Dämme entfernt: Oberhalb der verschwundenen Barrieren zählten Biologen bereits 2007 etliche zehntausend Meerneunaugen und viele tausend der zu den Heringen gehörenden Maifische.

Der Lechfall bei Füssen | In Deutschland, Österreich und der Schweiz reihen sich Staudämme, -wehre und sonstige Blockaden entlang der Flüsse aneinander. Seit Jahrhunderten zwängt man hier die Gewässer in ein enges Bett und nutzt ihre Kraft. Das zwölf Meter breite Wehr im Lech wurde erstmals Ende des 18. Jahrhunderts errichtet.

Ebenfalls an einem Nebenfluss der Loire wird ein 18 Meter hoher Staudamm auf eine Höhe von vier Meter reduziert. Und an der 85 Kilometer langen Sélune, die in der Normandie ins Meer mündet, werden zwei alte Staudämme abgebaut. Außer in Frankreich sollen auch in Spanien und in anderen europäischen Ländern Staudämme verschwinden. Insgesamt zählt Dam Removal Europe fast 5000 entfernte Dämme, Wehre und sonstige Barrieren. Nur im Herzen Mitteleuropas, in Deutschland, der Schweiz und Österreich, bleibt es in dieser Hinsicht verdächtig still.

Verbaute Alpenflüsse

Und das hat durchaus Gründe: »An den Gewässern Österreichs befindet sich im Durchschnitt alle 900 Meter ein Damm«, sagt der Riverwatch-Geschäftsführer Ulrich Eichelmann. Da ist der Effekt natürlich marginal, wenn an einem 20 Kilometer langen Gewässer der zwölfte von 22 Staudämmen zurückgebaut wird. Darüber hinaus haben die Europäer in vielen Jahrhunderten der Flussbegradigung und Eindeichung den Flüssen ein so enges Korsett verpasst, dass sich auch nach Entfernung eines Staudamms der Fluss nicht entfalten kann. »Viel wichtiger sind Lande daher die klassischen Renaturierungsmaßnahmen, in deren Rahmen dann natürlich auch Staudämme und Wehre abgebaut werden sollten«, erklärt Eichelmann.

An einen Rückbau in den Dimensionen des Elwha-Damms mit seinen einstmals fast 15 Megawatt sei ohnehin nicht zu denken, sagt der Riverwatch-Geschäftsführer. Gibt es in Deutschland doch rund 7700 Wasserkraftwerke, von denen 90 Prozent eine Leistung von weniger als zehn Megawatt haben. »Zusammen tragen diese Kleinkraftwerke nicht einmal ein zehntel Prozent zum Energiemix des Landes bei«, sagt Ulrich Eichelmann. Ihr Fehlen würde sich in der Strombilanz praktisch also gar nicht bemerkbar machen. Wenn Dämme entfernt werden, dürfte es demnach eher die Kleinen treffen.

Geringer Effekt

»Solche kleineren Barrieren aber sind für viele Arten kein großes Hindernis«, erklärt Peter Haase, der am Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt die Abteilung Fließgewässerökologie und Naturschutzforschung in Gelnhausen leitet. Seit mehr als 20 Jahren begleiten Peter Haase und sein Team etliche Renaturierungsprojekte in Deutschland und beobachten dabei oft nur leichte Verbesserungen beim Biosystem.

Das spricht natürlich keineswegs gegen Renaturierungen und Dammrückbauten, sondern zeigt nur, dass die Gewässer Mitteleuropas ein anderes, gravierendes Problem haben: »In unseren Bächen fließt auch nach diesen Maßnahmen immer noch kein sauberes Wasser«, sagt Haase. Gemeint ist der unsichtbare Schmutz, Arzneimittelrückstände zum Beispiel, die in Klärwerken nur unzureichend abgebaut werden. Sie können den Hormonhaushalt der Organismen durcheinanderbringen, mit schwer wiegenden gesundheitlichen Folgen.

Ein weiteres Problem ist die intensive Landwirtschaft. Von den Äckern und Wiesen der konventionell arbeitenden Bauern schwemmen die Niederschläge jede Menge feiner Sedimente und Agrarchemikalien in die Gewässer, die das Ökosystem dort stark in Mitleidenschaft ziehen. Da hilft es auch wenig, wenn ein Staudamm entfernt wird und das nach wie vor belastete Wasser wieder frei fließen kann. Anders als beim Elwha-Fluss, der aus einem Nationalpark kommt, scheint der Weg bis zu naturnahen Gewässern in Mitteleuropa also noch weit zu sein.

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