ÄrzteTag: Primärversorgung als Systemwende?

Frühmorgens an Christi Himmelfahrt beim 129. Deutschen Ärztetag in Leipzig: Während manche Abgeordnete gerade erst zum Frühstück schreiten, geht BVKJ-Präsident Dr. Michael Hubmann ins Podcast-Gespräch. In der 7. Folge unserer »ÄrzteTag«-Podcast-Reihe »Kindergarten Gesundheitspolitik« sprechen wir dieses Mail über die Frage, ob die Ärzteschaft bereit ist für ein echtes Primärversorgungsystem, und ob es die Politik und die Versicherten auch sind.
Politik: Abwesend im eigenen Programm
Der Einstieg ist politisch ernüchternd: Das neue »Sofortprogramm« der CDU/CSU-SPD-Koalition im Bund enthält kein Wort zum Gesundheitswesen. Für Hubmann keine Überraschung, aber doch ein Menetekel: »In der Sache erhöht es natürlich die Notwendigkeit der Geschwindigkeit, wenn man dann mal anfängt.«
Er gibt Bundesgesundheitsministerin Nina Warken dennoch einen Vorschuss an Vertrauen – »sie bietet Kommunikation an« –, er weiß aber auch: Die Zeit des Zauderns ist vorbei.
Primärversorgung: Die Stunde der Wahrheit
Der zentrale rote Faden des Gesprächs: Die Einführung eines verbindlichen Primärarztsystems – und die ärztlich-politische Verantwortung, diese mitzugestalten. Hubmann warnt: »Wenn wir das Angebot der Politik nicht annehmen, brauchen wir damit nicht mehr ankommen.«
Er schildert lebhaft die Kontroversen auf der KBV-Vertreterversammlung – harte Debatten, gegenseitiges Misstrauen zwischen Haus- und Gebietsärzt:innen, verdeckte Machtspiele um Verteilung und Zuständigkeiten. Aber eben auch: erste Annäherungen, gemeinsame Grundlinien – Planken, wie er es nennt.
Verteilungskampf: Geld oder Steuerung?
Es geht um weit mehr als Honorare – auch wenn der »schnöde Mammon« (Moderator) mitschwingt. Hubmann differenziert: Es sei nicht bloß Gier, sondern ein betriebswirtschaftlicher Imperativ. Kosten müssen refinanzierbar sein – sonst gibt es keine Investitionen, keine neuen MFAs, keine ärztlichen Kolleg:innen. »Ich habe eine gewisse Menge Güter und eine höhere Nachfrage. In der freien Wirtschaft würde der Preis steigen – das fehlt bei uns.«
Der 15–20 % Zielwert zur Reduktion unnötiger Kontakte ist für ihn keine Schikane, sondern ein Systemangebot: Effizienz ohne Substanzverlust – weniger Kontakte, aber fair vergütet.
Orientierung statt Überforderung
Ein weiteres Kernanliegen: Patient:innen brauchen Steuerung – nicht Bevormundung, sondern Orientierung: »Sie brauchen jemanden, der sie in diesem Dschungel führt.«
Dabei spart Hubmann nicht mit Kritik an der gegenwärtigen Praxis: Radiologie-QR-Codes, unverständliche Berichte, fehlende Anschlusskommunikation – alles Symptome eines Systems ohne Führung.
Und: Der Vertrauensvorschuss der Bevölkerung in Haus- und Kinderärzt:innen dürfe nicht durch innerärztliche Eitelkeiten verspielt werden.
No-Shows & Selbstverantwortung
Erstmals deutlich wie nie äußert sich Hubmann zu einem heiklen Thema: Nicht wahrgenommene Termine – No-Shows. Der BVKJ hat eine Umfrage gemacht – das Problem sei real und wachsend: »Wenn Sie eine Vorsorge mit einer Wartezeit von einem halben Jahr haben und die fällt aus, ist das ein Riesenthema.«
Er zieht den Vergleich zur Parkuhr: Wer parkt, muss zahlen. Warum nicht auch im Gesundheitswesen? Klar ist für ihn: Ohne eine gewisse finanzielle Mitverantwortung der Patient:innen wird Patientensteuerung zur Illusion.
Selektiv vs. Kollektiv: Zwei Welten, ein System
Am Beispiel der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) illustriert Hubmann ein strukturelles Ungleichgewicht: »Die HZV ist nicht teurer – das Kollektivsystem ist unfair.«
Er plädiert für ein Nebeneinander – aber mit klaren Rollen: HZV als verbindlicher Rahmen, Kollektivverträge mit fairer Leistungsabbildung. Und: Ein RSA-Bonus für eingeschriebene Versicherte könnte die dringend nötigen Anreize schaffen.
Fazit: Systemwandel nur gemeinsam
Was das Gespräch durchzieht, ist ein Motiv: Der Wandel darf nicht nur ärztlich geführt und politisch flankiert sein, er muss vor allem gesellschaftlich mitgetragen werden. »Wie bringen wir gemeinsam etwas auf den Weg?« Ein Appell an Kolleg:innen, Patient:innen und Politik.
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