Evidenz-Update: Nackenschmerz zwischen Red Flags und Evidenzbrandung

Ein Upgrade mit Haltung: Von S1 zu S3
»Es ist ein Update und ein Upgrade, das schreiben wir auch so«, sagt Thomas Kötter. Aus der einstigen S3-Leitlinie wurde später eine S1-Handlungsempfehlung und nun wieder eine multidisziplinäre S3-Leitlinie – mit einer Förderung aus Mitteln des Innovationsausschusses beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) unter dem Förderkennzeichen 01VSF22005. Der Grund: »Wenn wir das hausärztlich nicht weiter besetzen, tun es andere.« Die DEGAM hat, wenn man so will, ein Versorgungsfeld verteidigt, das ein originär allgemeinmedizinisches ist.
Kontinuität in der Versorgung + 20 Jahre Nackenschmerz
Martin Scherer blickt zurück auf seinen eigenen Einstieg ins Thema, als er vor 20 Jahren mit der Arbeit an der ersten Version der S3-Leitlinie begann: »Der obere Rücken war noch frei – also hieß es: Du machst Nackenschmerz.« Was hat sich seither getan? Überraschend wenig – und das ist vielleicht gar nicht mal schlecht.
Er ergänzt: »Man hat für vieles heute neue Begriffe, Patientenedukation etwa, aber im Kern machen wir seit 20 Jahren das Gleiche.« Der Fortschritt liegt also in der Bestätigung durch neue Evidenz und in einer weiter differenzierten Darstellung von Diagnostik und Therapie.
Wie so oft: Weniger ist mehr
Eines der drei Ziele, die die Leitlinie unterstützen soll, ist die Vermeidung unnötiger Diagnostik. Die Regel lautet: Red Flags ausschließen – und dann keine Bildgebung.
Nur sind es bekanntlich oftmals die Patientenerwartungen, die im ärztlichen Alltag dann doch zu bildgebenden Verfahren führen. Mittel der Wahl? Kommunikation.
Diagnostik dient nicht der Beruhigung, sondern der Risikoabschätzung. »Ich kann mit ausreichender Sicherheit sagen, dass nichts Gefährliches dahintersteckt« – das kann ein Schlüsselsatz für das Arzt-Patienten-Gespräch sein.
Psychosoziale Dimension: Mehr als nur steifer Nacken
Nackenschmerz ist oft Ausdruck komplexer psychosozialer Zusammenhänge. Nach Erscheinen der ersten S3-Fassung hatte die damalige Redaktion der MMW einen CME-Beitrag dazu provokant überschrieben mit: »Meistens liegt es am Stress – machen Sie das Ihren Patienten klar.« Scherer nennt das »journalistisch überspitzt«, aber völlig falsch ist es auch nicht. Die neue Leitlinie betont von Anfang an die Erhebung psychosozialer und arbeitsplatzbezogener Faktoren, nicht als Beiwerk, sondern als diagnostisch und therapeutisch relevant.
Aktivieren, aufklären, Vertrauen schaffen
Die Leitlinienautoren plädieren für ein konsequentes Set aus körperlicher Aktivierung, Edukation und Vermeidung unnötiger Maßnahmen. Wärmeanwendung wird empfohlen, Kälte kann hilfreich sein. Fast alles andere wird kritisch bewertet oder explizit abgelehnt: NSAR (nur kurzfristig), Paracetamol, Muskelrelaxanzien, Opioide, Injektionen, Kinesiotape.
Gegen Überversorgung und Geschäftemacherei
Kritisch wird es im Gespräch bei sogenannten »Nackenkliniken«. Das sind Wahl- und privatärztliche Praxen, die sich auf Nackenschmerzen »spezialisiert« haben und mit »individueller Diagnostik« und »multimodalen Konzepten« werben, die einen Reigen von Leistungen beinhalten, darunter auch Injektionen, Laser oder Taping. Befund:
»Das ist Quacksalberei.«– Thomas Kötter
»Unredlich und unethisch.«– Martin Scherer
Die S3-Leitlinie positioniert sich sp: Evidenz statt Esoterik, Patientensicherheit statt Profitstreben. Aber nicht minder wichtig ist, das zeigen die Beispiele, Implementierung: CME-Artikel, Praxistests, interprofessionelle Kooperation – alles ist Teil des Rollouts.
Fazit: Klug nicht handeln ist auch Therapie
Kötter und Scherer geht es um ein Plädoyer für Zurückhaltung, Aufklärung und therapeutische Besonnenheit. Nicht jeder Schmerz braucht ein Rezept. Nicht jeder Wunsch eine Maßnahme. Aber jeder Mensch braucht das Gefühl, ernst genommen zu werden.
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Plus für alle zu dieser Episode: eine ausführliche Zusammenfassung unseres Gesprächs, 5 Dos und 5 Don’ts, Wichtige Empfehlungen in a nutshell – sowie die Literatur: www.evidenzupdate.de/p/nackenschmerz-zwischen-red-flags.
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