Evidenz-Update: EbM im Shitstorm und Popper unterm Regenschirm

Der populäre Hämato-Onkologe Vinay Prasad ist von seinem Amt bei der US-Arzneibehörde FDA zurückgetreten. Prasad ist bekannt für seine kritische Haltung gegenüber voreiligen Zulassungen neuer Arzneimittel und gegenüber sogenannten »Innovationen«, die zwar teuer sind, aber für die nur mangelnde Evidenz vorliegt. Auslöser für den Rücktritt war eine mediale Kampagne der rechten Aktivistin Laura Loomer, die Prasads frühere Aussagen über US-Präsident Trump kritisiert hat, flankiert von Vorwürfen, er sei ein ideologisch motivierter »Bernie Sanders Acolyte«. Ins Kreuzfeuer ist Prasad offenbar deswegen geraten, weil das zuständige FDA-Gremium unter seinem Vorsitz eine klinische Studie einer neuen Gentherapie gestoppt hatte.
In unserem Ad-hoc-Gespräch fragen wir: Was bedeutet es, wenn Wissenschaftler unter politischem und medialem Druck mundtot gemacht werden? Was passiert mit der Wissenschaft, wenn regulatorische Entscheidungen nicht mehr evidenz-, sondern agendaorientiert getroffen werden? Und wie können in Zeiten von persönlich diffamierenden Schmutzkübelkampagnen, wie es auch die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf erleben musste, die Wissenschaften resilient bleiben?
Was war passiert?
Es geht um Vinayak K. Prasad, der eigentlich nur Vinay genannt wird. Er ist Hämatologe und an der University of California in San Francisco (UCSF) Professor für Epidemiologie und Biostatistik. Bekannt ist er für seinen reichweitenstarken YouTube-Channel und dafür, dass er gerne den Mund aufmacht, sehr streitbar ist. In der Pandemie hat er zum Beispiel viele Maßnahmen kritisiert, bspw. Maskentragen oder Schulschließungen, weil ihm die Evidenz dafür zu dünn war. Auch die Booster-Empfehlungen für COVID-Impfungen hat er kritisiert.
Und immer wieder hat er kritisiert, dass die USA zu viel Geld ausgeben für nutzlose bzw. schlecht geprüfte Therapien mit wenig Evidenz. In einer Arbeit mit Kollegen hat er finanzielle Interessenkonflikte angeprangert von jenen, die in Workshops der US-Zulassungsbehörde FDA an Entscheidungen der Gremien mitwirken. Ein Buch von ihm trägt den Titel: »Malignant: How Bad Policy and Bad Evidence Harm People with Cancer«.
Prasad hatte zu Jahresbeginn die Berufung des US-Chirurgen Marty Makary M.D., M.P.H. als neuen FDA-Commissioner gefeiert für dessen Worte bei der Berufungsanhörung: »I have never been afraid to speak my mind on scientific issues«. Die FDA untersteht bekanntlich dem US-Gesundheitsministerium (HHS), an dessen Spitze seit Jahresanfang Robert F. Kennedy Jr. steht, der für seine, milde formuliert, Impfskepsis bekannt ist.
Zurück zu Vinay Prasad: Der ist von Makary Anfang Mai dieses Jahres zum Vorsitzenden des CBER bei der FDA berufen worden. Das »Center for Biologics Evaluation and Research«, eines von insgesamt sechs in der FDA, kümmert sich um die Zulassung von Vakzinen, Blutprodukten, Zell- und Gewebeprodukten und Gentherapien, also ATMP (Advanced Therapy Medicinal Products). Hierzulande würde man das am ehesten mit dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI) vergleichen.
Am letzten Dienstag, 29. Juli, ist Prasad überraschend von seinem Job zurückgetreten. Und das hat (mindestens) zwei Gründe: Der erste heißt Elevidys, der andere heißt Laura Loomer.
Erstmal zu Elevidys: Das ist eine Gentherapie von Sarepta Therapeutics aus Cambridge/Mass. Hinter dem beeindruckenden Wirkstoffnamen »delandistrogene moxeparvovec« steht ein Adenovirus-Vektor AAVrh74, der das Erbgut für Micro-Dystrophin in die Zielzelle transportiert, eine verkürzte, funktionale Version des Dystrophin-Proteins. Die Therapie ist 2023 in den USA von der FDA zunächst im Fasttrack-Verfahren zugelassen worden gegen die Duchenne-Muskeldystrophie (DMD). Die Ergebnisse der Phase-3-Studie EMBARK, im letzten Dezember in Nature Medicine veröffentlicht, waren eher ernüchternd: der primäre Endpunkt wurde verfehlt. Dann gab es zwei Todesfälle und später einen dritten bei einem Patienten, bei dem die Gentherapie im Rahmen einer klinischen Studie wegen einer Gliedergürteldystrophie (LGMD) eingesetzt wurde. Die FDA hatte daraufhin vor gut zwei Wochen die entsprechende klinische Studie gestoppt – eine Entscheidung des CBER, dem zu diesem Zeitpunkt noch Prasad vorsaß.
Das Wall Street Journal hat die Entscheidung heftig kritisiert, und Prasad vorgeworfen, er sei ein Berni Sanders, jemand der »doesn’t think patients can be trusted to make their own healthcare decisions«. Das ist unter deren Lesern nicht ohne Widerspruch geblieben.
An der Stelle tritt Laura Loomer auf: Sie wird als »far right influencer« bezeichnet, die Stimmung fürs Trumplager und gegen dessen Gegner macht. Sie knöpft sich in ihren Kanälen und auf ihrer Website »Lommered« regelmäßig Politiker und Offizielle vor, die (angeblich) gegen Trumps Politik sind. Sie bezeichnet sich selbst als »loyalty enforcer«. Und sie hat sich eben auch Prasad vorgeknöpft. In einem Artikel nannte sie ihn u.a.:
Verstärkt wurde diese Kritik unter anderem von dem Republikaner und einstigen Senator Rick Santorum. Die New York Times berichtet, Santorum habe »ties« zum Elevidy-Hersteller Sarepta Therapeutics. Santorum selbst hat kritische Berichte über Prasads Entscheidung in sozialen Medien geteilt. In einem heißt es übersetzt: »Für Prasad besteht die Gefahr nicht darin, dass eine tödliche Krankheit sein Kind tötet, sondern darin, dass jemand ein neues Medikament erhält, das er für nicht sinnvoll hält.«
Jedenfalls ist Prasad daraufhin zurückgetreten. Seitdem hört man nichts mehr von ihm. In der EbM-Szene in den USA ist die Aufregung groß.
Wissenschaft unter Druck
Prasads Rücktritt markiert exemplarisch einen Wendepunkt, nicht nur in der US-Gesundheitspolitik, sondern für ein tiefer liegendes Problem: die zunehmende Verletzlichkeit wissenschaftlicher Unabhängigkeit im Spannungsfeld von Politik, Ideologie und Öffentlichkeit.
Sein Fall, aber auch die Kampagne gegen die Rechtswissenschaftlerin Frauke Brosius-Gersdorf zeigen exemplarisch, wie wissenschaftliche Entscheidungen politisch umcodiert werden, wie aus evidenzbasierten Einordnungen persönliche Feindbilder konstruiert werden. In den Worten von Martin Scherer:
»Diese Art der Personalisierung erinnert mich schon auch stark an die Gräben aus der Pandemiezeit.«
Die Kritik an Prasad ist nicht fachlich fundiert , sondern Ausdruck einer ideologischen Lagerbildung. Der Begriff Acolyte ist »symbolträchtig«, weil er nicht auf Argumente zielt, sondern eine politische Zuschreibung ist. In der Folge wird die Person nicht mehr als Wissenschaftler gesehen, sondern als angeblicher »Messdiener« einer politischen Agenda diskreditiert. Ein waschechtes argumentum ad hominem.
Kein amerikanisches Kuriosum
Diese Mechanismen sind nicht auf die USA beschränkt. Auch in Deutschland ist während der Corona-Pandemie spürbar geworden, wie schnell selbst wissenschaftliche Kritik delegitimiert wurde. Der Begriff Querdenker, ursprünglich Ausdruck für unorthodoxes Denken, ist zur pauschalen Abwertung geworden.
»Statt Argumente zu prüfen, werden Personen diskreditiert. Statt offener Debatte erleben wir Feldzüge gegen Abweichler.«
Beispiele gibt es zuhauf: die politische Einflussnahme auf die STIKO, die Diskreditierung einzelner Virologen, die Skepsis gegenüber IQWiG, PEI oder BfArM. Immer wieder wurde versucht, wissenschaftliche Verfahren und Methoden zu unterlaufen, zu instrumentalisieren oder zu delegitimieren.
Wissenschaft aber lebt vom Zweifel, vom Widerspruch, letzterer ist nicht nur konstitutiv für erstere, er ist auch institutionalisiert, beispielsweise im Peer Review.
»Kein vernünftiger Editor wird einen Artikel publizieren, wo beide Reviewer einfach nur den Daumen hoch machen.«
Dass Prasad nun gerade wegen seiner kritischen Haltung sich zum Rücktritt genötigt gesehen haben muss, ist aus unserer Sicht ein systemischer Angriff auf wissenschaftliche Integrität. Wenn politische Lager definieren, welche »Wissenschaft« gewünscht ist, steht die Idee einer offenen, kritischen Wissenschaft infrage.
Die offene Gesellschaft verteidigen
In diesem Zusammenhang rückt Karl Popper in den Fokus und sein Konzept der offenen Gesellschaft. Die lebt von Toleranz gegenüber Widerspruch, vom Schutz unbequemer Stimmen und von der Fähigkeit, Kritik auszuhalten.
»Wissenschaft gedeiht nur, wenn sie kritisch sein darf. Wenn Widerspruch nicht bestraft wird, sondern gefordert wird.«
Unser Appell an alle in der Wissenschaft Tätigen, an alle in der Politik, aber auch an die Gesellschaft insgesamt: Es braucht Resilienz gegen öffentliche Kampagnen, gegen politische Einflussnahme und gegen Polarisierung. Und es braucht den Mut, Verbündete zu suchen, vielleicht mit dem »U-Bahn-Trick«:
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