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Mathematische Knobelei: Frühzeitlicher Getreidewucher

Lange stand die Wissenschaft vor einem Rätsel, nun hat die Entschlüsselung der mittelknobelianischen Schrift endlich Gewissheit gebracht – die Hochkultur der Enigmaiten ist aufgrund eines dummen Rechenfehlers zugrunde gegangen. Es gab einfach nicht genug Getreidekörner im Universum, um den Hunger ihrer Götter zu stillen.
Die entscheidende Inschrift befindet sich am Fuße der großen Pyramidenmauer von Euklidia, der ehemaligen Hauptstadt des enigmaitischen Reichs. Sie erzählt die Geschichte vom Aufstieg dieses einmaligen Volkes, das seine Gesetze, seine Riten und seine Religion vollständig auf mathematische Formalismen stützte. So fanden im Leben eines Enigmaiten alle entscheidenden Schritte in primzahligen Lebensjahren statt. Mit zwei Jahren gab ihn die Mutter in die Rechengruppe des Dorfes, mit drei Jahren erhielt er seine ersten Kalkulierstäbchen, mit fünf wurde er in den Bund der Jungalleszähler aufgenommen, mit sieben trat er bis zu seinem elften Lebensjahr in die algebraische Priesterschaft ein, mit dreizehn suchte ihm der Dorfvorsteher einen Lebenspartner aus, mit dem er im Alter von siebzehn Jahren in eine gemeinsame Hütte zog, um pünktlich mit neunzehn Jahren selbst Nachwuchs zu bekommen.

Als Erwachsene bestellten die Männer ihre Felder, die je nach Rangstufe penta-, hexa- oder heptaedrisch waren. Währenddessen unterteilten die Frauen den Sternenhimmel in siebenunddreizig gleich große Winkelabschnitte und bestimmten die Länge eines Jahres so exakt, dass die Enigmaiten in ihrer 1000-zyklischen Historie stets auf die Minute genau zum selben Zeitpunkt Weihnachten feierten (Anmerkung der Redaktion: Die Interpretation der dicken zweibeinigen Figur mit buschigem weißen Bart, die an dieser Stelle in die Pyramidenwand gemeißelt ist, gilt unter Fachleuten weiterhin als umstritten. Statt um den Weihnachtsmann könnte es sich auch um einen flüchtigen Truthahn oder einen vom Himmel gefallenen Pottwal in Seetang handeln).

Ein weiteres herausragendes Beispiel für die mathematischen Fähigkeiten der Enigmaiten sind ihre Pyramidenmauern. Sie erstrecken sich anders als die ägyptischen oder mittelamerikanischen Pyramiden nicht in der Tiefe, sondern bestehen lediglich aus gewaltigen Steinwürfeln, die übereinander geschichtet wurden. Zunächst – so verrät es die Inschrift – hatte das Volk nur einen einzigen Würfel auf dem Marktplatz von Euklidia errichtet, den es als Aussichtsplattform und Anschlagfläche für Kleinanzeigen nutzte. Einmal im Jahr, vermutlich zu Weihnachten (siehe Anmerkung oben), versammelte sich das Volk um diesen Würfel und brachte seiner n-faltigen Gottheit ein Opfer in Form von Getreide dar. Als die Zahl der Enigmaiten zunahm, hatten jedoch nicht mehr alle geopferten Getreidekörner auf dem einzigen Würfel Platz, sodass nach und nach weitere Würfel aufgestellt und übereinander gestapelt wurden. Schließlich entstand so die berühmte Pyramidenwand mit einer Reihe von zehn Würfeln an der Basis, darauf ruhend neun Würfel, auf denen acht Würfel Platz fanden und so fort bis zum solitären Abschlusswürfel an der Spitze.

Das Bevölkerungswachstum hatte jedoch nicht nur den Bau der Pyramidenwand zur Folge, sondern machte auch eine Quantifizierung der Opfergaben erforderlich. Auf Entscheidungswegen, die noch nicht vollständig aufgeklärt sind, kam es zu einer folgenschweren Regelung, die den unvermeidlichen Untergang der stolzen Kultur bedeutete. Die Enigmaiten koppelten die Höhe der Gotteszahlungen mit den Würfeln ihrer Pyramidenwand. Im ersten Jahr nach deren Fertigstellung belegten sie sich selbst mit einer Abgabe von einem Getreidekorn, das feierlich auf dem Würfel ganz unten links deponiert wurde. Im zweiten Jahr waren zwei Körner auf dem benachbarten Würfel fällig. Im dritten Jahr drei auf dem dritten Würfel und so fort bis zum zehnten Jahr, in welchem sie dem Gott zehn Getreidekörner auf dem zehnten und damit letzten Würfel der Grundreihe übergaben.

In Anbetracht der geringen Menge kamen sich die Enigmaiten möglicherweise selbst ein wenig knauserig vor, weshalb sie den Modus fortan änderten. Das Opfer im elften Jahr wurde auf dem Würfel abgelegt, der auf den Würfeln Nummer eins und zwei ruhte, und umfasste so viele Getreidekörner wie das Produkt der Körnerzahlen der beiden unteren Würfel, also 1·2=2. Ein Jahr später war der Würfel oberhalb des zweiten und dritten Grundreihenwürfels dran, was 2·3=6 Körner erforderlich machte. So ging es fort bis 9·10=90 Körner. Alsdann sank das Opfer in der nächsten Reihe auf 2·6=12 Körner, gefolgt von 6·12=72 Körner usw.

Die Höhe eines jeden Opfers auf einem Würfel ergab sich als Produkt der Opfer auf den beiden tiefer liegenden Würfeln. Über lange Zeit waren die Enigmaiten mit diesem Modus sehr zufrieden, weil er dem Gott einen steigenden Anteil an ihrer Ernte zugestand, der jedoch beim Wechsel in eine neue Würfelreihe wieder abfiel. Zu spät bemerkten sie, dass die Höhe der Gabe bald mehr als die Hälfte ihrer Ernte ausmachte und kurz darauf sogar mehr als die gesamte Ernte. Die Enigmaiten sahen sich darum gezwungen, benachbarte Völker, mit denen sie bislang in Frieden gelebt hatten, zu überfallen und mit der Beute den Hunger ihres Gottes vorübergehend zu stillen.

Doch auch das währte nicht lange. Die kulturelle Entwicklung der Enigmaiten kam alsbald zum Erliegen, denn es waren alle Kräfte – vom Kleinkind bis zum Greis – nötig, um auf jede erdenkliche Weise Getreide zu beschaffen. Die Bildung und die Rechenkunst, die einst im Zentrum des Denken dieses Volkes gestanden hatten, wurden vernachlässigt, und so konnte kaum noch jemand berechnen, wie viele Getreidekörner der unersättliche Gott in diesem Jahr fordern würde. Was vielleicht gut so war, denn auf diese Weise wurden die Enigmaiten von einem Bündnis ihrer Nachbarn, die keine Lust verspürten, weitere Raubzüge über sich ergehen zu lassen, überfallen und als Rechensklaven in alle Winde verkauft, bevor sie feststellten, dass es schon bald im gesamten Universum nicht ausreichend viel Getreide gegeben hätte, um ihren Gott auszuzahlen. Geschweige denn, die Forderung des obersten Würfels zu erfüllen. Denn wie viele Stellen hat die Zahl der Getreidekörner, die – rein hypothetisch – auf ihm abzuladen wären?
Ob unter den Einsendern der Lösung auch Nachkommen jener einst verkauften Rechensklaven waren? Die vielen richtigen Ergebnisse deuten fast darauf hin (obwohl uns in der Aufgabenstellung ein kleiner Zahlendreher unterlaufen war: 6·12 ist natürlich 72, nicht 78, wir bitten um Entschuldigung).
Wie also bekommen wir diese erwartungsgemäß riesengroße Zahl zu fassen? Antwort: durch viele, viele kleine Zahlen und zwar die der untersten Reihe der Pyramide. Alle Zahlen "darüber" sind ja Produkte aus Zahlen darunter. Wie oft jede Zahl als Faktor zum Einsatz kommt, lässt sich der Pyramide entnehmen, die am Ende dieser Lösung steht. Und zwar der untersten Zeile, weil unsere Pyramide aus zehn Reihen besteht.

Nun, da wir wissen, wie oft jeder Faktor vorkommt, können wir sie zum Einsatz kommen lassen. Nennen wir die Gesamtzahl der Getreidekörner G, so gibt das folgende Gleichung:

G = 11·29·336·484·5126·6126·784·836·99·101

Das lässt sich in eine logarithmische Darstellung umwandeln, also in G = 10log10(G). Nach dem Logarithmusgesetz für Multiplikationen kann man die Klammer im Exponenten auflösen und in eine Summe umwandeln, also in log10(11) + log10(29) + ... + log10(101).

Das Ergebnis dieser Summe ist ungefähr 369,66361 - also gilt G = 4,609 · 10369. Der Exponent entspricht dabei der Anzahl der Stellen, die das Zahlenmonster G aufzuweisen hat, 370 ist die Antwort.

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