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Haufenweise

Treitz-Rätsel

Ab welcher Zahl von Teilchen (Blätter, Staubkörnchen, Menschen etc.) ist eine Ansammlung dieser Teilchen ein Haufen?

Mein Kollege Herbert Litschke, inzwischen Professor in Wismar, beantwortete die Frage, jedenfalls bei Anwendung auf Reiskörner, so: "Wenn sie dreidimensional liegen, ist es ein Haufen."

Die gesuchte Zahl ist sicher größer als 1 und endlich. Endlich? Eine kleine Anzahl \(n\) von, sagen wir, Reiskörnern ist sicher noch kein Haufen. Daran ändert sich nichts Wesentliches, wenn wir noch ein Korn hinzufügen. Das ergibt einen Induktionsbeweis nach dem Muster "In einen ganz gewöhnlichen Koffer kann man (allerdings nur abzählbar) unendlich viele Taschentücher packen":

  1. Ein Taschentuch passt hinein,
  2. wenn \(n\) hinein passen, dann passt auch noch eins mehr hinein.

Daraus folgt die Behauptung.

Demnach wäre eine beliebig große Anzahl von Körnern (usw.) noch kein Haufen. Es gibt aber Haufen …

Hier tut sich ein – im Gegensatz zu obigem Scherzbeweis – sehr ernsthaftes Problem auf, das in der Literatur als "Sorites"-Problem bezeichnet wird. Es läuft auf die Frage hinaus, ob vielleicht die Logik und die ganz gewöhnliche Sprache nichts miteinander zu tun haben. Die Logik verlangt von einem Eigenschaftswort, dass es auf ein Objekt entweder zutrifft oder nicht. Meistens machen wir aber Aussagen, die in einem weiten Ermessensraum als zutreffend oder auch nicht angesehen werden können, und trotzdem ist das nicht völlig sinnlos.

Dass man reich ist, wenn man zu den 10 % reichsten Leuten der Erde gehört, ist ziemlich sicher, und dass man arm ist, wenn man zu den 10 % ärmsten der Erde gehört, ebenso. Ob aber die 10 % ärmsten Deutschen oder die reichsten 10 % der Bewohner von Mali arm oder reich sind, ist schon weniger klar, und die wichtigsten politischen Entscheidungen der nächsten Jahrzehnte werden damit zu tun haben.

So schön die formale Logik für Denkaufgaben ist: Sie ist zu simpel zur Beschreibung der Welt. Es lohnt sich daher gar nicht, Tiefsinniges über das Haufen-Paradox zu ergründen: Es zeigt uns vor allem, wie unzureichend Formalismen sein können. Wenn man aber von der Logik etwas mehr zur Stochastik oder Statistik wechselt, wird es wieder etwas sinnvoller:

Im Falle der Haufen sieht meine relativ ernsthafte Lösung so aus: Es ist ziemlich sinnlos, entscheiden zu wollen, ob z. B. 37 Körner ein Haufen sind oder nicht. Man kann aber ausprobieren, ob Leute eine solche Ansammlung von Körnern als Haufen bezeichnen. Bei 3 Körnern werden es nur ganz wenige tun, bei 1000 vermutlich fast alle. So kann man zu jeder Zahl von Körnern eine relative Häufigkeit finden, mit der bestimmte Leute das Wort "Haufen" anwenden. Diese relative Häufigkeit kann man als Zustimmungsgrad zur Frage "Ist das ein Haufen?" auffassen. Er kann von der Situation, der Auswahl der Befragten und von allen möglichen Dingen abhängen, aber er wird in jeweils gleicher Situation bei einer größeren Zahl von Körnern eher größer sein als bei einer kleineren (bis auf statistische Schwankungen). Ich würde es aber ablehnen, hier von einem Wahrheitsgrad (wie es ernsthaft diskutiert wird!) zu sprechen, sondern den Begriff der Wahrheit hier einfach als unpassend weglassen.

Wie ist es nun mit Folgerungen der Art "Wenn \(n\) Körner ein Haufen sind, dann sind auch \(n-1\) Körner einer"? Man kann nur sagen, dass der Zustimmungsgrad für die Aussage, dass \(n-1\) Körner ein Haufen seien, nur wenig kleiner sein wird als der für \(n\) Körner, sozusagen fast genau so groß. Aussage-Ketten für die Relation "fast genau so groß" sind aber nicht transitiv, im Gegensatz zu denen mit "genau so groß". Und damit hat sich das Problem in Luft aufgelöst.

Im Falle der Taschentücher im Koffer kann man sagen: Die Wahrscheinlichkeit, dass der Koffer mit \(n+1\) Taschentüchern nicht mehr zugeht, ist nicht oder nur sehr wenig größer als für \(n\) Taschentücher, aber jedenfalls nicht kleiner und auch nicht immer genau gleich.

Dass im Falle des Haufens überhaupt ein Problem (und sogar ein scheinbares Paradox) auftritt, liegt daran, dass "Haufen" zu den vielen Wörtern gehört, die nicht scharf definiert sind. Wenn man dann eine Logik darauf anwenden will, die scharf definierte Begriffe (z. B. Mengen im Sinne der Mathematik) voraussetzt, bekommt man Widersprüche. Wann aus einem Kind ein Jugendlicher und aus diesem ein Erwachsener wird, ist juristisch festgelegt, ansonsten aber unscharf. Ähnlich ist es in der klassischen "Amphibius"-Version des Paradoxons: Wann wird aus einer Kaulquappe ein Frosch?

Es gibt einen (nur mäßig lustigen und für seine Verhältnisse nur mäßig spannenden) Film von Hitchcock über ein Ehepaar (Mrs. und Mr. Smith), dessen Trauung durch einen Kapitän sich als ungültig herausstellt, weil das Schiff, auf dem sie stattfand, einige Zoll zu kurz war, um als Schiff im Sinne des Gesetzes zu gelten.

Um es noch einmal klar zu sagen: Das Haufen-Problem ist dann ein Paradox, wenn man statt der gewöhnlichen Sprache und statistischer Bewertungen die (klassische) Logik darauf loslässt.

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