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Jessens Polyeder

Treitz-Rätsel
© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz
© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz

Hier sind bei einem Ikosaeder an 6 Stellen Paare von gleichseitigen Dreiecken durch Paare von gleichschenkligen Dreiecken mit jeweils einer Talfalte ersetzt worden. Welches Seitenverhältnis haben diese Dreiecke? Bauen Sie das Polyeder aus Kartonflächen mit Scharnieren an allen Kanten. Wählen Sie als Seitenverhältnis der gleichschenkligen Dreiecke 1 : 1 : 1,63. Was bemerken Sie zur Formfestigkeit?

Bastelbogen zum Jessen-Polyeder
PDF (226.7 KB)

Drucken Sie diese PDF-Datei zweimal auf Karton (zweckmäßig 160 g/qm) aus. Ritzen Sie die inneren Linien der einzelnen Bauteile und knicken Sie alle geritzten Linien zu Bergfalten, mit Ausnahme der langen Linien, die zu Talfalten werden. Kleben Sie dann das Polyeder zusammen, indem Sie stets einen Randstreifen unter eine nackte (randstreifenlose) Kante kleben.

Wenn Sie noch festeren Karton verwenden, lauter einzelne handgezeichnete Dreiecke ausschneiden und mit Klebefilm verbinden: Achten Sie darauf, dass die Bergfalten beweglich bleiben müssen. Kleben Sie also dort die Teile etwas zu lose aneinander, so dass der Klebefilm zur Not die doppelte Kartondicke überbrücken kann!

Jessens Polyeder mit dem genannten Seitenverhältnis ist erstaunlich flexibel ("shaky"), obwohl es theoretisch formstabil ist. Sie können es mit 4 Fingern so drücken, dass die Täler wie Fischmäuler enger werden, und die Luft pfeift durch die kleinen Löcher, die Sie vielleicht offen gelassen haben, es erinnert mit dieser Funktion, aber auch mit der Form an einen Blasebalg.

© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz
© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz

Nennen wir in einem cartesischen Koordinatensystem die Koordinaten der 12 Ecken \((\pm a, \pm b,0)\) mit allen Vorzeichenkombinationen und Vertauschungen, so haben die 8 gleichseitigen Dreiecke die Seitenlänge \(d = \sqrt{(a^2 + b^2 + (a – b)^2)}\), die lange Seite der gleichschenkligen Dreiecke ist die größere der Längen \(a\) und \(b\), nehmen wir an, dass wir sie \(a\) genannt haben. Wenn man \(a\) konstant hält und \(b\) ändert, ändert sich auch \(d\), aber es läuft durch ein Minimum beim Seitenverhältnis \(a:b = 2:1\). Das bedeutet, dass sich \(d\) auch bei einer ziemlich starken Änderung von \(b\) nur ganz wenig ändert, so dass kleine Verformungen des Kartons oder der Klebestreifen das auffangen. Das Verhältnis \(d:a\) ist im Minimum 1:1,623, also nur wenig vom goldenen Schnitt entfernt, der im Ikosaeder exakt bei den entsprechenden Kanten und Diagonalen auftritt.

In der folgenden Stereo-Simulation wird gar keine Rücksicht auf die Längenänderungen genommen, und wir sehen eine Verformung vom Kuboktaeder, dessen Quadrate auf je einer Diagonalen sozusagen einknicken, über Jessens Polyeder bis zum Zusammenklappen zu einem Oktaeder und wieder zurück:

© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz
© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz

Die Toleranz erinnert (mich jedenfalls) an das Zeichnen einer Tangente an einen Kreis auf die unfeine Art, nur mit dem Lineal: Man trifft den Kreis so genau, wie man einen Punkt treffen kann, der Berührpunkt selbst ist aber auf diese Weise nur ungenau zu finden, er könnte auch um einiges auf dem Kreis vor oder zurück wandern, ohne dass man es merken würde, obwohl er doch geometrisch eindeutig festliegt.

Das Jessen-Polyeder hat in ähnlicher Weise eine genau definierte Gestalt, aber kleinste Toleranzen des Materials erlauben beachtliche Formänderungen. Wenn man von vornherein hinreichend (aber auch nicht übertrieben) weiches Material nimmt, kann man daraus einen Blasebalg (z.B. für ein Akkordeon) oder eine Kinderlaterne bauen.

Im Kantenmodell ist das Polyeder sogar noch etwas beweglicher: Schneiden Sie 24 Trinkhalme auf 10 cm Länge und 6 auf 14 cm. Fädeln Sie dann (am besten mit einer langen Nadel oder einem am Ende gespaltenen Schaschlik-Stab aus Holz) Elastic-Nähgarn durch die jeweils zu einem Dreieck gehörenden Kanten und knoten Sie sie etwas stramm zusammen. Das fertige Modell ist zunächst ein Kantenmodell eines Kuboktaeders mit je einer Flächendiagonalen in den Quadraten. Sie können es aber zu einem Oktaeder zusammenklappen, wobei dann jede Kante und jede Diagonale doppelt ist. In beiden Positionen passen die beiden Längen (10 und eigentlich 14,14 cm) auch theoretisch zusammen. Beim Übergang müssten die langen vorübergehend auf etwas über 16 cm anwachsen, was aber wegen der Gummibänder kein Problem ist.

© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz

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  • Quellen
Weisstein, Eric W.: Jessen's Orthogonal Icosahedron. Dort finden sich weitere Hinweise.

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