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Mathematische Knobelei: Reformierte Ratlosigkeit

Nach Steuer, Rente und Rechtschreibung hat der Strudel rühriger Politikaktivisten nun die Rechenkunst erfasst: Die Mathematik ist reformiert worden. Warum auch nicht? An mehr als das kleine Einmaleins hat sich nach der Schule sowieso kaum jemand erinnert. Und Newtons Integrale passen doch schon längst nicht mehr zur demografischen Entwicklung der Bevölkerung. Aber vor allem: Wir müssen der Welt zeigen, dass Deutschland zu Reformen fähig ist! Selbst wenn dort draußen alle nur noch mit dem Kopf schütteln.
Damit wir uns nicht missverstehen: Ich habe nichts gegen Reformen. Ganz im Gegenteil. Schließlich kaufen meine Frau und ich schon seit vielen Jahren unseren Tofu im Reformhaus, und unsere Tochter haben wir ganz bewusst in einen reformierten Kindergarten geschickt. Ich schreibe auch "dass" stets brav mit zwei "s", sodass die "ß"-Taste meines Computers allmählich von einer leichten Moosschicht bewachsen ist. Nein, Reformen sind mir keineswegs unangenehm. Nur... Nun ja, ich habe da jetzt ein kleines Problem.

Das neue Regalsystem aus dem ostfriesischen Möbellager, in das ich meine Aktenordner einsortieren möchte, ist mit so einer neuen Aufbauanleitung geliefert worden. In deutscher Rechtschreibung Version 4.7.1.1 und konform zur aktuellen Fassung der Kalkulationsreform der Mathematikreform der Rechenreform... oder so ähnlich. Jedenfalls besteht das System aus 42 würfelförmigen Kästen mit einer Aktenordnerhöhe als Kantenlänge. Und es darf nur in genau einer ganz bestimmten Art und Weise aufgebaut werden - sonst kommt das mit den Verbindungswinkeln, Schraubeinmuffungen und Abstandsklinkerstäben nicht hin. Steht extra in gesperrtem Fettdruck in der Anleitung.

Früher wäre das gar keine Schwierigkeit gewesen. Da hätte ich die Konstruktion eben mal schnell durchgerechnet. Einfach die Fläche aus dem Umfang bestimmt und zum Volumen ins richtige Verhältnis gesetzt. Und schwupps!... Schon würde ich gegen die neuen Regeln verstoßen. Dabei sorgen die doch endlich für Klarheit und konsequente Vorgehensweisen.

So sind Additionen nach Regel 0.815, Absatz 42 nun verbindlich in Großzahlschreibweise mit blauvioletter Tinte auszuführen. Für Multiplikationen wird hingegen grünmetallic empfohlen (Regel 0.815, Absatz 666), mit Ausnahme von Primzahlen, die obligatorisch mit Bleistift zu schreiben sind (Regel 3.5.7.11.13.17). Es sei denn, innerhalb der beiden folgenden Zeilen ist eine Division durchzuführen. In diesem Fall ist die Aufgabenstellung mit einem Stechbeitel in zyprisches Zedernholz zu stemmen und das Ergebnis in einem unfrankierten Briefumschlag aus Jute an das Ministerium für unsinnige Angelegenheiten zu schicken (Regel XY-Z).

Immerhin habe ich inzwischen herausbekommen, dass die Einzelkästen zu einem Quader kombiniert werden sollen. Dessen Basisfläche hat einen Umfang von 18 DIN-genormten Aktenordnerhöhen. Gäbe es nicht die Regel 3.1415, wonach Teilvolumina oberhalb eines EU-konformen Zuckerwürfels über fraktionierte Winkelfunktionen zu ermitteln sind, könnte ich damit im Handumdrehen (was obendrein nach Regel 2.7, Absatz 1828 nur gegen orthogonale Flächen konvergieren darf) die geforderte Höhe meines Regals bestimmen. So aber hadere ich mit dem Treiber meiner neuen Grafikkarte, deren Reformationssubprozessor dummerweise keine fluktuierende Dezimalschreibweise verträgt, die laut Regel 1.23, 2.31 und 3.21 verbindlich einzusetzen ist.

Natürlich bin ich mir vollends bewusst, dass die Ursache meiner Nöte in einer irrationalen unterschwelligen Verweigerungshaltung gegen Neuerungen im Allgemeinen und Reformen im Besonderen zu sehen ist. Deshalb werde ich mich selbstverständlich noch einmal eingehend mit dem verbesserten Regelwerk auseinandersetzen. Aber dummerweise hat sich für heute Abend wichtiger geschäftlicher Besuch aus dem Ausland angekündigt. Und bis dann muss das Regal unbedingt fertig aufgebaut und vorzeigbar sein. Schon alleine, damit die Welt sieht, wie reformfähig deutsche Knobelfreunde sind. Wenn ich nur wüsste... Sie haben nicht zufällig einen Tipp, wie hoch der Regalquader sein muss, gemessen in Aktenordnerhöhen?
Reichlich kompliziert ist das reformierte Regalsystem, und sonderlich praktikabel scheint es auch nicht unbedingt zu sein. Aber so ist das wohl mit Reformen. Nichtsdestotrotz, auch wenn wir in dieser Knobelei ein wenig mit seltsamen DIN-Normen zu kämpfen hatten, so gibt es doch eine eindeutige Lösung, die sicherlich auch in Zukunft Bestand hat.
42 würfelförmige Kästen mit der Seitenlänge eines Aktenordners sind also zu stapeln und zwar so, dass sie einen großen Quader bilden. Außerdem soll die Basisfläche einen Umfang von 18 Aktenordnerhöhen haben. Das Volumen des Regalquaders ergibt sich durch Höhe h mal Breite b mal Tiefe t:

h·b·t = 42

Der Umfang ergibt sich aus Breite und Tiefe:

2·(b+t) = 18
b + t = 9

Überlegen wir also, welche Möglichkeiten es für die Faktoren b und t gibt, sodass h ganzzahlig ist:

bth
18-
273
36-
45-
54-
63-
723
81-


Es gibt also im Grunde nur eine Lösung, nämlich die mit den Seitenlängen 2 und 7. Die Höhe ist demzufolge 3.

Gut, damit können wir also das Regalsystem aufbauen. Fragt sich nur, wie wir später einmal an die Aktenordner in der Mitte kommen sollen? Aber vielleicht können wir dahin auch die Ordner mit den leidigsten Reformen verstecken, auf dass sie nie wieder gefunden werden.

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