Direkt zum Inhalt

Mathematische Knobelei: Rotkäppchen in Nöten

„Hier hast du einen Korb mit Kuchen und Wein für die Großmutter. Sei folgsam und trödle nicht in dem tiefen, dunklen Wald. Bleib auf den Wegen und verlasse vor allem nicht dein Märchen, Rotkäppchen!“
Es war einmal vor langer Zeit, als noch in jeder zweiten Bauernkate eine unerkannte Prinzessin ihres verspäteten Prinzen harrte, aggressive Schneider nach Lust und Laune Körperverletzungen begehen konnten, ohne dafür strafrechtlich belangt zu werden, und Eltern ihre kleinen Kinder für belanglose Botengänge in den Wald schickten. Zu dieser Zeit wurde auch Rotkäppchen bei Tagesanbruch von ihrer Mutter geweckt, damit sie vor der Schule schnell auf einen Sprung bei der Großmutter am anderen Ende des Waldes reinschaute.

"Du weißt, die Großmutter hat heute Geburtstag und möchte am Nachmittag gerne mit der alten Knusperhexe und Frau Holle ein bisschen Kaffeeklatsch abhalten. Ich habe ihr versprochen, einen Kuchen zu backen, mit den schönen Äpfeln, die Schneewittchens Stiefmutter samstags auf dem Wochenmarkt verkauft. Und eine Flasche Wein bekommt sie noch dazu, ist ja schließlich ihr achtzigster Geburtstag. Sieh her: Ich packe alles in diesen Korb und decke es mit einem Tuch zu. Spute dich, dass du es der Großmutter bringst und rechtzeitig zur Schule kommst. Ich will nicht, dass du zu spät zum Matheunterricht erscheinst."

Ein wenig verschlafen streifte sich Rotkäppchen ihr Kleidlein über den Kopf, schlüpfte in ihre topmodischen gläsernen Pantoffeln und stülpte sich ihre rote Baseballkappe, der sie ihren Namen verdankte, auf das Köpfchen. "Alles klar, Mama", sprach sie und zog hinaus in den verwunschenen Wald. Vorbei an den frisch renovierten Häuschen der drei Schweinchen ging sie, warf einen Stein nach den sieben Raben, die auf einer uralten Eiche saßen, streichelte das Kaninchen, vor dem die sieben Schwaben zitterten und lauschte kurz den schrägen Tönen der neuen Bremer Stadtmusikanten.

Am hohen, alten Turm inmitten des Waldes blieb Rotkäppchen stehen. Düster ragte das Gemäuer vor ihr auf, ohne Türen und das unterste Fenster gute sieben Meter über dem Boden. Rotkäppchen kannte den Turm von ihren früheren Besuchen bei der Großmutter. Meist wehte ein melancholisch-schöner Gesang aus ihm herüber. Aber heute war nur ein leises Seufzen zu vernehmen. Noch seltsamer war jedoch, dass eine Leiter außen am Turm lehnte. Nanu, dachte Rotkäppchen, da wird doch niemand eingebrochen sein. Mutig wie die Kinderdetektive in ihren Jugendbüchern entschloss Rotkäppchen sich, den Fall zu lösen.

"Zunächst muss man die Beweise sichern, so gehen echte Detektive immer vor." Ganz genau betrachtete sie den Tatort: Der Turm stieg senkrecht nach oben, genau drei Meter von seiner Mauer entfernt setzte die Leiter an und stieß auf sechs Metern Höhe gegen den Turm, exakt einen Meter unter dem Fensterbrett. "Und jetzt schau ich mich mal drinnen um", sagte Rotkäppchen. "Das wollte ich schon immer mal tun." Doch als sie ihren Fuß auf die unterste Sprosse der Leiter setzte, rutsche diese ein Stück herab, sodass sie nun vier Meter von der Mauer entfernt und dementsprechend niedriger am Turm stand. "So ein Mist!", jammerte sie. "Nun ist es viel weiter bis zum Fenster, da komme ich alleine bestimmt nicht mehr hoch. Ich werde wohl Hilfe brauchen."

Da kam ein Prinz des Weges geschlendert. Rotkäppchen erkannte ihn sogleich an seinem wehenden Umhang aus purpurnem Samt und seiner goldenen Krone mit den bunten Edelsteinen. "Herr Prinz, Herr Prinz, kommen Sie schnell", rief das Kind ihn heran. "Dort oben wartet eine verstoßene Prinzessin auf ihren Retter. Kommt und erlöst sie, auf dass Sie beide glücklich leben bis an ihr Lebensende."

In Wirklichkeit wusste Rotkäppchen natürlich nicht, ob in dem Turm eine Prinzessin hauste oder vielleicht nur eine alte Hexe. Eigentlich vermutete sie darinnen am ehesten einen Einbrecher. Aber hätte sie den Prinzen mit dieser Aussicht anlocken können? Wo doch jeder weiß, dass Prinzen landauf, landab stets auf der Suche nach Prinzessinnen in dramatischen, mediengerecht aufbereiteten Schwierigkeiten sind.

Und tatsächlich trottete der Prinz zu dem Turm hinüber, wenn auch nicht sonderlich motiviert wirkend. "Herr Prinz, da oben: Durch dieses Fenster müssen wir kriechen. Die Prinzessin ist im Turm gefangen und kann nicht heraus." "Aha", antwortete der Prinz etwas schleppend. "Wenn es denn sein muss." Vor Begeisterung, dass sie nun doch in den Turm gelangen würde, war Rotkäppchen so aufgeregt, dass sie gar nicht merkte, wie träge der Prinz war. Sie hüpfte vor Freude, sprang ihm in die Arme und gab dem überraschten Thronfolger einen Kuss auf die Wange. - P U F F - Rauchwölkchen stiegen auf, Rotkäppchen plumpste ins Gras, und als sich der Qualm verzogen hatte, sah sie vor sich einen Frosch sitzen mit einer kleinen goldenen Krone auf dem Kopf.

"Ich danke dir", quakte der Frosch. "Du hast den Bann gebrochen. Denn wisse: Ich war ein verwunschener Frosch, der nur durch den Kuss eines unschuldigen, überkandidelten Mädchens seine wahre Gestalt zurückerlangen konnte. Einen schönen Tag noch." Und mit diesen Worten hüpfte er von dannen.

Rotkäppchen sah ihm verblüfft nach. Der war jetzt noch kleiner als sie selbst, von dem konnte sie keine Hilfe erwarten. "Dann muss ich es eben alleine schaffen", dachte sie und versuchte, die Leiter wieder dichter an den Turm heran zu schieben. Doch so sehr sie sich auch mühte, sie konnte die schwere Leiter keinen Fingerbreit bewegen.

Da hörte sie ein Rascheln im Gebüsch. Das ist bestimmt der böse Wolf, kam ihr in den Sinn. "Na warte! Du hast den armen Schweinchen ihre Häuschen kaputt gepustet und den sieben Geißlein Angst gemacht. Nun bekommst du es mit mir zu tun." Rotkäppchen griff sich einen Stecken und schritt mutig auf das Gebüsch zu. Doch ihr entgegen trat kein Wolf, sondern ein Prinz - allerdings ein ziemlich kleiner Prinz.

"Guten Tag, junge Dame", grüßte er. "Ich habe mich ein wenig verlaufen. Kannst du mir zufällig den Weg zum Haus der sieben Zwerge zeigen? Dort soll ich eine Prinzessin in einem gläsernen Sarg wach küssen." Der meint bestimmt Schneewittchen, dachte Rotkäppchen, da wird er sich aber wundern, wenn er sieht, dass sie mindestens doppelt so groß ist wie er. Mit 2,12 Meter war Schneewittchen tatsächlich außergewöhnlich groß, und selbst mit Haar, schwarz wie Ebenholz, Haut, weiß wie Schnee, und Lippen, rot wie Blut, war es da nicht so einfach, einen Prinzen zu finden. Darum hatten sich Schneewittchens Heiratsvermittler ja auch dieses schöne Märchen für sie ausgedacht, um Bewerber aus der ganzen Welt damit anzulocken.

"Du musst einfach dem Weg dort folgen, an der Diamantenmine links, und danach ist es ausgeschildert", gab Rotkäppchen bereitwillig Auskunft. "Aber vorher musst du mir noch helfen, dort in den Turm zu klettern." "Oh nein! Das ist nichts für mich", wiegelte der kleine Prinz ab. "Ich mische mich nie in andrer Leute Märchen, das gibt nur Scherereien." Damit drehte er sich um und entschwand in die falsche Richtung im Gebüsch.

"Niemand will mir helfen", schluchzte Rotkäppchen und setzte sich auf einen Baumstumpf. "Vielleicht kann ich etwas für dich tun", sagte da ein Stimmchen zu ihren Füßen. Als Rotkäppchen aufsah, erblickte sie einen schön getigerten Kater, an dessen vier Pfoten klobige Gummistiefel steckten. "Du bist...", fing sie an - "...der gestiefelte Kater, zu Diensten", sprach der Kater. "Obwohl ich bei diesem schönen Wetter viel lieber Sandalen tragen würde. Oder am besten gar keine Schuhe. Aber dummerweise habe ich früher einmal meine Krallen ausgefahren, als ich die Stiefel an hatte. Dabei haben sie sich tief und fest in die Sohlen gebohrt, und nun bekomme ich die Schuhe nicht mehr herunter." "Du Armer. Wie willst du mir denn helfen?" "Du möchtest wissen, was in dem Turm ist, reichst aber nicht an das Fenster heran. Nimm mich auf die Schulter und hilf mir auf den Fenstersims. Dann kann ich dir erzählen, was ich sehe."

Nicht genau das, was ich wollte, dachte sich Rotkäppchen, aber immerhin besser als gar nichts. "Einverstanden", sagte sie und wollte nach dem Kater greifen. "Es gibt da nur ein klitzekleines Problem", wandte dieser ein. "Die blöden Stiefel stören mich. Ich kann nicht springen und tue mir beim Stürzen weh. Deshalb muss ich sicher sein, dass wir tatsächlich bis an das Fenster reichen, wenn wir ganz oben auf der Leiter stehen und du mich mit gestreckten Armen emporhebst. Falls das sowieso nicht reicht, lassen wir es lieber gleich bleiben. Also müssen wir wissen, auf welcher Höhe die Leiter nun an den Turm stößt und wie weit es von dort noch bis zur Unterkante des Fensters ist. Das kannst du doch sicherlich schnell ausrechnen, oder?"

Oje, dachte Rotkäppchen. Das konnte sie leider nicht ausrechnen. Also brauchten sie und der gestiefelte Kater noch einen Helfer, der sich mit Mathematik auskennt. Damit Rotkäppchen endlich ihre Neugierde stillen und bei Rapunzel in das Turmfenster schauen konnte. Wie weit ist es denn noch von der obersten Stelle der Leiter bis zum Fenstersims?
Lange musste Rotkäppchen offenbar nicht warten. Viele von Ihnen haben die richtige Lösung gewusst und demnach müsste der Kater den Satz wohl schaffen können, denn die Leiter reicht bis ziemlich genau 1,61 Meter unter das Sims des Fensters.

Zur Lösung hätte Rotkäppchen eigentlich nur an Herrn Pythagoras denken müssen, aber da Sie es ja mit Mathematik nicht so hatte und der Gelehrte auch keine Märchengestalt ist, war sie auf Hilfe anderer angewiesen.

Pythagoras hilft insofern weiter, da die angelehnte Leiter zusammen mit dem Turm ein rechtwinkliges Dreieck beschreibt. Im ersten Fall ergibt sich damit die Gleichung:

aª + b² = c² mit a = 3 und b = 6

Im Fall der abgerutschten Leiter lautet die Gleichung:

xª + y² = c² mit x = 3 + 1

c ist natürlich in beiden Fällen gleich, da sich die Länge der Leiter nicht ändert. Das heißt also:

aª + b² = xª + y²

Damit ist y:

y = √(aª + b² - xª)

Jetzt muss man nur noch alle Größen einsetzen und erhält für y:

y = √(29) = 5,39

Zieht man das von der Simshöhe (7 Meter) ab, dann erhält man die gesuchten 1,61 Meter.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.