Wer war’s?: So einfach verschwindet man nicht, nicht einmal in Prag

Warm eingepackt steht sie lässig da, in Fellhosen und einem übergroßen weiten schwarzen Fellmantel, eine Hand erhoben am Rad des Meridiankreises, im Observatorium der Universität Lund. Unter der Mütze lugen Locken hervor, selbstsicher blickt sie in die Kamera. Als das Foto entsteht, ist die junge Frau erst 24 Jahre alt und steckt noch mitten im Astronomiestudium – aber sie hat schon erste Einträge auf ihrer Publikationsliste. Regelmäßig steht sie zu dieser Zeit im Observatorium, um veränderliche Sterne zu beobachten. Und im südschwedischen kalten Winter tut sie das eben auch im Männermantel. Zumal sie die erste Frau ihres Landes ist, die Astronomie professionell betreibt.
In die eigenen Kräfte zu vertrauen, lernt sie früh: Ihr Vater stirbt, als sie fünf Jahre alt ist. Sie wächst bei der verwitweten Mutter auf. Die bleibt allein erziehend, und das Geld ist knapp. Vermutlich finanziert die Gesuchte bereits den Besuch des Gymnasiums durch ein Hochbegabtenstipendium. Sicher ist: Als sie sich an der Universität Lund einschreibt, sammelt sie aus Not Stipendien und Fördergelder, erfolgreich, dank ihrer hervorragenden Studienleistungen. Sie brennt für die Wissenschaft, beginnt schon während des Studiums, begeistert zu lehren (fürs Geld) und zu forschen (fürs Gefühl).
Irreguläre Veränderliche faszinieren sie, Sterne, deren Helligkeit scheinbar unregelmäßig ab- und zunimmt. Sie macht Listen von ihnen, vermisst sie, schätzt Absorption durch Gas- und Staubwolken im All ab, vermutet Interferenzen zwischen mehreren Veränderlichen als eine Ursache und schreibt darüber eine exzellente Dissertation. Ihr Doktorvater ist ein Glücksfall für sich, ein fortschrittlicher Denker und vielleicht sogar ein bisschen der Ersatz für den verstorbenen Vater: Anders als viele Kollegen stört er sich überhaupt nicht daran, dass seine Doktortochter die erste promovierte Astronomin des Landes sein wird, und bis ins hohe Alter bestärkt er sie immer wieder mit sehr netten Briefen.
Die junge Wissenschaftlerin beginnt zu reisen. Und alle sind beeindruckt von der ebenso schönen wie schlauen Astronomin, die Schwedisch, Englisch, Deutsch, Russisch und Französisch spricht und sich durch andere Sprachen »durchmogeln« kann, wie sie sagt. Sie besucht praktisch alle Observatorien Nordeuropas, in Norwegen, Finnland, Wien, Budapest, Potsdam und Berlin. Sie lernt Dutzende Kollegen kennen und wird mit vielen lebenslang Kontakt halten. Dr. [Julius] Dick erklärt ihr in Berlin Babelsberg »den unpersönlichen Mikrometer und bot mir an weiterzumachen, wenn ich wiederkomme«, Paul Guthnick zeigt ihr »den neuen Photometer« auch in Babelsberg, Erwin Finlay-Freundlich führt sie in den Einsteinturm in Potsdam. Im belgischen Uccle erlebt sie den Anfang des Krieges – »von dem Fenster in meinem Arbeitszimmer blicke ich auf ein echtes Kriegslager. Pferde und Soldaten laufen zwischen den Instrumentengebäuden herum« – und arbeitet mit einem großen Meridiankreis, »aber der ist so reichlich mit Schrauben und Kontakten versehen, dass man Zeit braucht, um sich mit der Mechanik vertraut zu machen. Mein erster Gedanke war, dass ich mindestens sechs Hände brauchen würde, um ihn bequem zu bedienen.«
Viel Humor und Selbstvertrauen steckt in ihren Briefen: »Alle warnen mich davor zu reisen und unterhalten mich mit schrecklichen Geschichten über Mädchen, die verschwinden und verschwunden sind. Aber ich werde es schon schaffen, so einfach verschwindet man nicht, nicht einmal in Prag. Wollte dies nur sagen, für den Fall, dass ich wirklich verschwinden sollte.« Tatsächlich verschwindet sie nicht in Prag, sondern schaut dort Leo Pollak über die Schulter, während er den Henry-Draper-Katalog mit allen 225 305 astronomischen Objekten in hochmoderne Lochkarten stanzt.
Doch dann bricht der Krieg tatsächlich los; viele Freunde müssen emigrieren, und die junge Astronomin beginnt, für die militärische Aufklärung ihres Landes zu arbeiten. »In der Zwischenzeit hat Hitler offenbar vor, ein Land nach dem anderen zu besetzen. Man kann nur hoffen, dass wir es schaffen, in Zukunft unbesetzt zu bleiben. Aber wenn ich die Wahl hätte zwischen einem deutschen Verbündeten und einer deutschen Besatzung, würde ich mich wohl für Letzteres entscheiden«, schreibt sie – und wartet auf das Kriegsende.
Als es da ist, versucht sie, wieder an die Uni zu kommen, doch vergebens. Es wäre auch ein Spagat geworden zwischen Astronomie und Altenpflege. Ihre Mutter, bei der sie lebt, ist inzwischen pflegebedürftig. Zudem ist das Geld wieder sehr knapp, und die Astronomin entscheidet sich, Lehrerin zu werden. An der Oberschule in einer mittelgroßen Stadt beginnt sie, Physik und Mathematik zu unterrichten, und tut es wie stets mit viel Energie. Doch sie ist hoffnungslos unterfordert – und überfordert gleichzeitig ihre Schüler, weil sie sich einfach nicht vorstellen kann, dass jemand so simple Mathematik nicht kapiert. Es kommt zu heftigen Konflikten: Die Schüler weigern sich eines Tages sogar, eine unangekündigte Klassenarbeit zu schreiben. Ganz still sei sie daraufhin geworden, erinnern sich Schüler. Und ihre Lehrerin? »Die bekam einen ordentlichen Knacks«, wie es eine Biografin ausdrückt.
Tatsächlich: Sie verwelkt. »Klein, gekleidet in ihrem unauffälligen Lehrerinnen-Outfit, mit niedergeschlagenen Augen und schnellen, energischen Schritten, machte sie sich auf den Weg zur Schule, wo sie ihrer Aufgabe mit größter Ernsthaftigkeit nachkam.« Nur in den Ferien reist sie noch ein bisschen und initiiert die Gründung eines Ortsverbands einer internationalen Organisation berufstätiger Frauen, der »Zonta«. Doch ihr Leben ist vorbei, bevor es mit 61 Jahren wegen einer Krebserkrankung endet.
Es war Frida Palmér (geboren am 14. Januar – in anderen Quellen: Februar – 1905 in Blentarp, Skåne, gestorben am 13. Oktober 1966 in Halmstad, Halland). Palmér wurde in Südschweden geboren und lebte dort zeit ihres Lebens. Ihr Vater, ein Bauunternehmer, starb mit nur 35 Jahren im Jahr 1910, als Frida fünf Jahre alt war. Die Mutter Elsa, geborene Jeppsson, zog daraufhin mit ihrer Tochter nach Järrestad in der Gemeinde Simrishamn. Bis zu ihrem Tod 1956 heiratete die verwitwete Mutter nicht mehr; Geldmangel prägte daher das ganze Leben von Frida Palmér.
Im Jahr 1922 schloss Frida Palmér die Schule in Simrishamn ab. Drei Jahre später erhielt sie das Abitur am so genannten Vollständigen Lyceum für Mädchen in Lund, wohl durch ein Stipendium finanziert. Im selben Jahr nahm sie ein Studium der Mathematik und Astronomie an der Universität Lund auf.
Frida Palmér interessierte sich besonders für veränderliche Sterne, insbesondere solche mit irregulären Helligkeitsschwankungen. Im Jahr 1928 schloss sie ihr Studium als fil. kand. ab, vergleichbar mit einem Bachelorabschluss. Im folgenden Jahr begann sie, als außerordentliche Amanuensis (eine Art Hilfsdozentin) am Astronomischen Institut zu lehren, um – zusätzlich zu Stipendien – Geld zu verdienen. Ab dem Jahr 1928 veröffentlichte sie mehrere Sternlisten und -kataloge auf Basis eigener Beobachtungen, insbesondere von irregulären Veränderlichen. Im Jahr 1930 schloss sie ihr Studium mit Bestnote ab. Zwischen 1933 und 1936 arbeitete Frida Palmér als Assistentin am Observatorium Lund.
Im Jahr 1929 hatte Knut Lundmark dort die Leitung übernommen, als umstrittener Kandidat nach einem langen Auswahlverfahren. Der Astronom hatte sich unter anderem durch Forschungsaufenthalte am Lick Observatory und am Mount Wilson Observatory einen internationalen Ruf erarbeitet und galt als fortschrittlich, insbesondere auf seinem Spezialgebiet, der Erforschung von Galaxien. Er hatte schon in seiner Dissertation 1919 vermutet, Spiralgalaxien seien ferne Sternsysteme, was damals nicht unumstritten war. Allerdings wandte er sich gegen eine zu starke »Mathematisierung« der Astronomie, während man am Astronomischen Institut in Lund traditionell großen Wert auf Statistik legte. Lundmark wurde Frida Palmérs Doktorvater und auch persönlich eine Art Ersatzvater, doch er hatte nicht genug wissenschaftlichen Einfluss, um seiner Schülerin langfristig eine feste Anstellung in der Forschung sichern zu können.
Immerhin konnte sie nach Abschluss ihres Studiums 1930 – unterstützt beispielsweise durch ein Reisestipendium für ihr exzellentes Examen – mehrere Forschungsreisen unternehmen, nach Prag, Wien, Budapest, Potsdam und Berlin, nach Norwegen, Finnland, in die Niederlande, nach Frankreich und sogar in die Sowjetunion.
Im Januar 1939 verteidigte sie ihre Dissertation über irreguläre Veränderliche, in der sie 182 Veränderliche sehr genau charakterisierte. Damit war sie die erste Frau, die in Schweden in Astronomie promoviert wurde. Sie forschte in der Folgezeit kurz am Observatorium in Uccle bei Brüssel. Der Kriegsbeginn verhinderte jedoch eine geplante Fortsetzung ihrer Forschung an Observatorien in den USA. Im Jahr 1940 wurde sie (auch auf Grund ihrer Russischkenntnisse) vom schwedischen militärischen Nachrichtendienst rekrutiert, der heutigen FRA (Försvarets radioanstalt). Dort war sie als Kryptoanalytikerin leitend tätig und analysierte unter anderem sowjetische Marinekommunikation.
Nach Kriegsende versuchte Frida Palmér erfolglos, in der akademischen Astronomie Fuß zu fassen. Sie bemühte sich um Fördermittel für den Druck ihrer Dissertation, der mehr als 3000 Kronen kosten sollte, und reichte Anträge auf Forschungsstipendien ein. Privat pflegte sie weiter ihre Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen in ganz Europa und den USA und versuchte, auch fachlich auf dem Laufenden zu bleiben.
Doch schon 1940 war sie wieder zu ihrer Mutter gezogen, die zunehmend gesundheitliche Probleme hatte. Aus finanziellen Gründen nahm Palmér 1946 daher eine Anstellung als Lehrerin für Mathematik und Physik in Halmstad an, womit sie ihre wissenschaftliche Karriere faktisch aufgab. Sie galt zwar als engagierte Lehrerin, war dabei aber unterfordert und überschätzte umgekehrt die Fähigkeiten ihrer Schüler bei Weitem, was immer wieder zu Konflikten führte. Zudem war sie im kleinen Halmstad mit ihren Fähigkeiten und Interessen eine Außenseiterin. Bis auf einige Reisen weitgehend zurückgezogen lebend, starb sie im Jahr 1966 an Krebs.
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