Wer warʼs?: Exzellenz in der zweiten Reihe

Es ist ihr Ehemann, der sie an die Astronomie heranführt, was nicht bedeutet, dass sie nicht ohne ihn auch Karriere hätte machen können: Ihre Ausbildung ist gut, sie geht auf ein College und wird Mitglied einer berühmten wissenschaftlichen Vereinigung. Ihre Studienfächer muten ziemlich divers an, unter anderem studiert sie Deutsch und unterrichtet später Mathematik. Ihren Ehemann trifft sie in ihrem akademischen Umfeld.
Von der ersten Begegnung berichtet er in einem späteren Rückblick: »An der Universität traf ich in meinem dritten Jahr eine Brünette aus Kansas City. Und ich bin sie nie mehr losgeworden – oder hätte das auch nur gewollt. Wir trafen uns zum ersten Mal im Mathematikunterricht. Sie saß in der ersten Reihe und wusste alle Antworten. Sie war wirklich eine schlaue Frau. Sie hatte fünf Kurse belegt, und in allen diesen erhielt sie Bestnoten.«
Nach der Trauung im elterlichen Hause macht sich das frisch verliebte Paar auf zu einer Reise nach Kalifornien und vertieft sich unterwegs in astronomische Berechnungen. Ihr Ehemann erinnert sich später: »Es war eine lange Reise, aber ich hatte ein paar nette Beobachtungen bei mir. Während unserer Flitterwochen arbeiteten wir an der Verfinsterung von Doppelsternen. Meine Frau war sehr schnell in ihren Berechnungen, und wir verbrachten ein paar vergnügte Tage zusammen.«
Als Tochter erlebt sie mit, wie ihre Mutter – nachdem der Vater überraschend bei einer Blinddarmoperation verstorben war – die sechs Kinder allein durchbringt, unter anderem, indem sie als Lehrerin für Privatschüler arbeitet. Die älteste Tochter hilft in ihren Teenagerjahren mit, den Haushalt zu führen. Einige ihrer Schwestern verdingen sich später als Lehrerinnen, wie zeitweise auch sie selbst. Ihr Vater hatte ebenfalls einst als Lehrer gearbeitet, und zwar für Musik – er hatte versucht, den Sportunterricht unter musikalischer Begleitung an den Schulen der Region einzuführen. Für seine pädagogischen Verdienste wird er später mehrfach ausgezeichnet. Und ihre Liebe zum Musikmachen übernimmt die Gesuchte dabei auch von ihrem Vater.
Sie ist eine großartige Forscherin, obwohl sie ihre Blicke nicht allzu weit ins All schweifen lässt – zumindest für die damaligen Verhältnisse. Doch auch die Geschehnisse auf der Erde lassen sie nicht kalt: Zahlreiche Aufzeichnungen häuslicher Dispute zeugen davon, wie sie Anteil am politischen und im Zweiten Weltkrieg auch am militärischen Geschehen nimmt.
Das Paar wird später zudem berühmt dafür, möglichst viele Feiermöglichkeiten zu nutzen und stets ein offenes Haus zu führen. In Harvard, so berichtet es ein Kollege, kommt ihr soziales Talent zur vollen Blüte: Sie und ihr Mann veranstalten regelmäßig Partys, bei denen neben vielen anderen Gästen sich auch Berühmtheiten wie Albert Einstein und Igor Strawinsky die Ehre geben. Das wird die ohnehin schon eingeschüchterten Anfängerstudenten noch weiter eingeschüchtert haben, wie zu vermuten ist.
Sie selbst aber, das gibt sie am Ende ihres Lebens preis, ist nicht so ganz zufrieden mit dem, was sie geleistet hat – obwohl ihre unmittelbare Umwelt das natürlich anders sieht. (Unermüdlich arbeitet sie auch im offiziellen Ruhestand weiter und publiziert unter anderem einen »Catalogue of the Elements of Eclipsing Binaries.«) Dennoch: Sie bedauere, so gibt sie zu verstehen, dass sie nicht mehr aus sich allein heraus erreicht und gemacht habe, denn sie sei einfach nicht der Typ, den es vollends befriedige, ihrem Ehemann geholfen zu haben. Da sie ja offensichtlich als Frau mit einer Begabung geboren sei, dann habe sie, wie sie glaube, vielmehr auch die Verpflichtung, diese Begabung zu nutzen und nicht nur ihre Aufgaben als Frau und Mutter zu erfüllen.
Gleich mehrere ihrer fünf Kinder werden berühmt: ein Sohn bei der NASA, eine Tochter als Astronomin – und ein weiterer Sohn bekommt sogar einen Nobelpreis.
Es war Martha Betz Shapley (geboren am 3. August 1890 in Kansas City, gestorben am 24. Januar 1981 in Tucson). Sie war eines von sechs Kindern eines Musiklehrers und einer Lehrerin, die Familie war teilweise deutschen Ursprungs. Ihr in Deutschland aufgewachsener Großvater erzählte, dass er Caroline Herschel in Hannover auf der Straße gesehen habe.
Martha Betz Shapley durfte, wie andere ihrer Schwestern auch, studieren: Als sie 18 Jahre alt geworden war, besuchte sie die Universität in Missouri. In den drei Jahren zuvor hatte sie bereits als Aushilfslehrerin gearbeitet.
Während ihrer Universitätszeit wurde sie Mitglied der traditionsreichen akademischen Vereinigung Phi Beta Kappa. Sie lernte in dieser Zeit auch ihren späteren Ehemann, den Astronomen Harlow Shapley, kennen. Sie begegneten sich zum ersten Mal in einem Trigonometriekurs und begannen, miteinander auszugehen; überliefert sind Besuche unterschiedlicher Veranstaltungen, unter anderem der Vorstellung einer fahrenden Shakespeare-Theatergruppe.
Im Jahr 1912 wurde Martha Betz Shapley Mathematiklehrerin an einer Highschool. Ein Jahr später nahm sie ein Promotionsstudium in Germanistik am Bryn Mawr College in Pennsylvania auf, das sie jedoch nicht zu Ende führte.
Sie folgte ihrem Ehemann zunächst an das Mount Wilson Observatory und kurz darauf an die Sternwarte der Harvard University, wo Harlow Shapley zum Direktor ernannt worden war. In den Jahren zuvor war sie zwischen ihrem Studienort und Harvard gependelt. Sie beschäftigte sich insbesondere mit der Untersuchung der Verfinsterungen (Eklipsen) von Doppelsternen. Dies war ein Thema, das ihr Ehemann Harlow im Rahmen seiner Dissertation erforscht hatte, bevor er sich anderen Feldern zuwandte.
Ein enger Mitarbeiter von Betz Shapley äußerte später die Vermutung, sie habe wesentlichen Anteil an der Promotionsarbeit ihres Mannes gehabt, weil sie die bessere Mathematikerin von beiden gewesen sei. Bis zum Jahr 1927 publizierte sie ihre Forschungsergebnisse regelmäßig, danach ließ ihr vielleicht ihre Familie – das Paar hatte insgesamt fünf Kinder – keine Zeit mehr dazu.
Während des Zweiten Weltkriegs wollte Martha Betz Shapley zu den Anstrengungen ihres Landes beitragen: Sie bewarb sich beim Civil Service und hätte gerne in der Kryptoanalyse gearbeitet. Als sie auf diesem Gebiet keine passende Anstellung fand, berechnete sie zusammen mit dem tschechischen Kollegen Zdeněk Kopal die Bahnen von Geschossen.
Mehrere ihrer Kinder wurden selbst bekannt bis berühmt: Die Tochter Mildred arbeitete als Astronomin an der Sternwarte von Triest in Italien und war mit einem Astronomen verheiratet. Ein weiterer Sohn arbeitet als Geophysiker. Der Mathematiker Lloyd Stowell Shapley wurde Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler; er erhielt im Jahr 2012 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften.
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