Wer war’s?: Physiker im Boston-Clan

Seine Familie ist alteingesessen, ehrwürdig, voll von Pfarrern, Kaufleuten und Wissenschaftlern, die gerne mal eine Legislatur im Kongress verbringen oder als Botschafter arbeiten. Gemeinsam ist ihnen eines: Sie sind reich. Standesgemäß trägt der Gesuchte zusätzlich zu Vor- und Nachname gerne eine »IV«. In den ersten Lebensjahren finden wir ihn im Winter in Boston und in den Sommermonaten auf einem Gut im damals vor der Stadt gelegenen Brookline, umgeben von vielen Hektar Grund. Irgendwann gibt die Familie das noble Nomadisieren auf und lässt sich fest im Ort nieder. Der spätere Physiker wird praktisch sein ganzes Leben hier verbringen.
Zum Glück steht die Harvard University sozusagen direkt vor der Haustür. So weiß der Jugendliche, wo er studieren wird. Unklar ist, was. Ein echtes Studium (im Sinne von: eifrig) wird es erstmal nicht, nur so eine Art Studentenleben, »mit einem gewissen Hang zu den Naturwissenschaften«, wie ein Biograf schreibt. Als Beleg zitiert er die Ausstattung des Kinderzimmers des Gesuchten, die aber nur nach vermögender Oberschicht der damaligen Jahre klingt: eine Drehbank, ein Windrad, Batterien, Chemikalien, eine Dampfmaschine sowie ein Dynamo.
Der Student dümpelt also studierend dahin und droht gerade Richtung Elektroingenieurwesen abzudriften, da kommt ihm ein charismatischer Physikprofessor in die Quere, der mit dem Angebot einer Assistentenstelle und einer Doktorarbeit frischen Wind ins Leben bringt. »Ihm verdanke ich nicht nur mein Interesse an dem Fachgebiet, sondern auch die Auszeichnung, die ich schließlich erlangte, denn ohne sein ständiges Beispiel vor Augen und ohne seine ständige Hilfe und Ermutigung wäre ich auf der Strecke geblieben«, schreibt der Gesuchte später.
Es wird eine Dissertation über »False Spectra from the Rowland Concave Grating« – im Wesentlichen die Beobachtung, dass einen ein gängiger Versuchsaufbau in der Spektroskopie durch »geisterhafte« Messwerte narren kann. Um sich die Zeit zu vertreiben, reist der Gesuchte unterdessen auch ein wenig durch das sommerliche Europa und lernt, wo gerade die Musik spielt im Weltkonzert der Physik. Im Wintersemester darauf finden wir ihn in Cambridge, im Labor von J. J. Thomson, in dem sich gerade künftige Nobelpreisträger gegenseitig auf die Füße treten, und im Sommer darauf in Göttingen, dem mathematischen Nabel der damaligen Welt. Nach Harvard, das in puncto Physik in jenen Tagen recht verschnarcht ist, kehrt er als Held aus einer anderen Welt zurück und wird folgerichtig flott Dozent und wenig später Professor mit einer unbefristeten Anstellung. Nur knapp zwei Jahrzehnte später bekommt er sogar den ehrenvollen Hollis-Lehrstuhl für Mathematik und Naturphilosophie.
Davon hat er aber fünf Jahre später genug. Mit gerade mal 51 Jahren wird er Emeritus und verwaltet nur noch ein bisschen, quasi als unbezahltes Hobbyprojekt, ein Labor der Universität. Hier durchleuchtet er alles, was auch nur halbwegs durchsichtig erscheint, Festkörper und Gase, denn von der Dissertation bis zum allmählichen Ende seiner Physikerlaufbahn befasst er sich mit Spektroskopie im UV-Bereich. Dabei entdeckt er eine Gruppe von Emissionslinien im Wasserstoffspektrum, die heute nach ihm benannt ist. Diese Linien sind auf Elektronensprünge in den Grundzustand zurückzuführen.
Diese Entdeckung seines Lebens hat er schon gemacht, bevor er für zwei Jahre in den Kriegsdienst musste. Danach habe ihn die Wissenschaft überholt, wie er mit einem gewissen Bedauern konstatiert. Doch dank des familiären Vermögens hat er es nicht nötig, sich ein anderes Forschungsgebiet in der Physik zu erarbeiten. »Seine finanziellen Verbindungen zur Universität scheinen etwas unregelmäßig gewesen zu sein«, schreibt ein Biograf und meint damit: In den letzten Jahren seiner Anstellung zahlt er der Uni sein Gehalt sogar zurück. Er hat wirklich genug.
Während die Liste seiner physikalischen Publikationen verödet, widmet er sich lieber seiner Gesundheit. Die sei nie besonders stark gewesen, behaupten seine Biografen, die Uni-Arbeit habe ihn stets sehr erschöpft. Tatsächlich sind unter anderem Augenprobleme (wohl durch die UV-Strahlung im Labor) und eine chronische Verbrennung des Handrückens aus demselben Grund belegt.
Der Junggeselle erholt sich auf Reisen, auf denen er sich dann allerdings prompt einen Blinddarmdurchbruch mit Komplikationen zuzieht: Als eines der ersten Mitglieder des Traveller’s Club fährt er rund um die Erde, unter anderem nach Sibirien, Alaska, Korea und Britisch-Ostafrika, wo er stolz vier Löwen erschießt. Hie und da hält er auch mal den einen oder anderen Vortrag oder bringt verschiedenen amerikanischen Museen gesammelte Fauna und Flora mit.
Es war Theodore Lyman (geboren am 23. November 1874 in Boston, gestorben am 11. Oktober 1954 in Cambridge, Massachusetts). Lyman entstammte einer reichen, traditionsbewussten Familie. Bis auf seine zahlreichen Reisen verbrachte er sein gesamtes Leben im Großraum Boston, insbesondere im Familienanwesen in Brookline. Lyman war der Vierte einer Linie von Theodore Lymans: Sein Urgroßvater war einflussreicher Kaufmann, sein Großvater Gründer einer Schule, sein Vater Meeresbiologe. Auch seine Mutter Elizabeth Russell entstammte einer angesehenen Kaufmannsfamilie und hatte zudem diplomatischen Hintergrund.
Sein Studium nahm Lyman an der Harvard University im Herbst 1893 auf. Zunächst ohne klare Ausrichtung, nur einer gewissen technischen Neugier folgend, machte er im Jahr 1897 seinen Bachelor in Physik. Erst durch den Anstoß durch Wallace C. Sabine, der ihm eine Assistentenstelle und ein Forschungsprojekt für eine Doktorarbeit gab, stieg Lyman intensiver in die Forschung ein; im Jahr 1900 wurde er promoviert.
Es folgten mehrere Reisen nach Europa, nach Göttingen und nach Cambridge. Wieder in Harvard, begann er einen akademischen Aufstieg: Im Jahr 1902 wurde er Dozent (erst auf ein Jahr befristet, dann entfristet), fünf Jahre später Assistant Professor – ab dem Jahr 1917 auch hier ohne Befristung. Vier Jahre später erhielt er den angesehenen Hollis-Lehrstuhl für Mathematik und Naturphilosophie. Nur knapp fünf Jahre später gab er diesen Lehrstuhl aber wieder auf und wurde Emeritus. Parallel war er Direktor des Jefferson Physical Laboratory, ein Amt, das er bis zum Jahr 1946 behielt. In Forschung und Lehre zeichnete er sich dabei nicht durch besondere Energie aus: Seinen letzten Kurs in Optik hielt er in den Jahren 1937/38; im Jahr 1933 promovierte Wilson Marcy Powell bei ihm. Womöglich betreute er im Jahr 1942 einen zweiten Doktoranden, über den aber nichts weiter zu finden ist.
Lyman verzichtete – wie andere betuchte Professoren auch – oft mindestens teilweise auf sein Gehalt und engagierte sich finanziell für die Universität. Wissenschaftlich blieb er einem Thema treu: der UV-Spektroskopie. Aufbauend auf Vorarbeit von Sabine und Victor Schumann entwickelte er Instrumente zur Messung von Spektrallinien unterhalb von 1260 Ångström. Im Jahr 1914 entdeckte er die nach ihm benannte Lyman-Serie im Wasserstoffspektrum. Es folgten weitere Arbeiten zur Ultraviolettabsorption von Helium, Neon und anderen Elementen.
Während des Ersten Weltkriegs unterbrach Lyman seine akademische Tätigkeit, um in der amerikanischen Armee zu dienen. Wieder an der Universität musste er jedoch feststellen, dass er in der Forschung ins Hintertreffen geraten war. Insbesondere Robert Andrews Millikan hatte die Spektroskopie im extremen Ultraviolett durch neue Methoden weit über das hinausgetrieben, was Lyman bis zum Krieg geschafft hatte.
Lyman, zeit seines Lebens unverheiratet und kinderlos, verlagerte seinen Lebensschwerpunkt daher mehr und mehr auf andere Interessengebiete. Stets war seine Gesundheit schwach – auch ein Grund, weswegen er nur mit halber Kraft an der Universität arbeiten konnte. Er litt an durch die UV-Strahlung verursachte Hautläsion und Sehverlust. Dazu kamen Erkrankungen, die er sich auf Reisen zuzog: Während einer Überfahrt nach Europa erlitt er eine Blinddarmentzündung mit Komplikationen, die ihn bis an sein Lebensende beeinträchtigten.
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