Lehrreiche Metadiskussion
Interdisziplinarität ist mühsam. Sie verlangt, dass wir über den eigenen Tellerrand hinausblicken, unsere gewohnte Umgebung verlassen und uns auf unbekanntes Terrain begeben. In aller Munde ist sie heutzutage nicht etwa, weil sie Arbeitserleichterung verspricht, sondern weil wir die Komplexität unserer Umwelt erkannt haben und feststellen, dass ein Fachgebiet oder eine Wissenschaft allein oft keine befriedigenden Antworten mehr liefern kann.
Dieses Buch beschreibt Interdisziplinarität in der Astronomie. Vier Themengebiete bilden dabei das Gerüst: Astronomie und Physik, Astronomie in der Gesellschaft, Beobachtungsinstrumente und Astronomie als Beruf sowie Astronomie an den Grenzen des Wissens. Jedes Themengebiet ist in mehrere Aufsätze von verschiedenen Autoren gegliedert. Das Themenspektrum reicht dabei von Gravitationswellenastronomie über Vorstellungen, wie die europäische Astronomie weitergeführt und gestärkt werden kann, bis hin zu Herausforderungen beim Bau der neuen Teleskopgeneration oder dem Zwist zwischen Astronomie und Astrologie.
Die Mutter aller Wissenschaften ist vielleicht die am meisten vernetzte Wissenschaft überhaupt. Ein kurzer Rundflug über die angrenzenden Felder zeigt, welch großer Aufgabe sich die Autoren gestellt haben: Traditionell verbandelt mit der Astronomie sind aus Forschungssicht unzählige mathematische Teilgebiete wie die Geometrie, die Optik und die Statistik, aber auch die Physik der Thermodynamik, die Chemie, Geologie, Astrologie oder die Philosophie und Religion. Längst hinzugesellt haben sich aber auch die Biologie, das Ingenieurswesen (Großteleskope), die Softwareentwicklung (numerische Simulationen), die Geschichtswissenschaften oder die Archäologie (Archäoastronomie und forensische Astronomie). Berücksichtigen wir zusätzlich administrative Abläufe, sind durch internationale Großprojekte und die Raumfahrtagenturen auch geografische, politische, ökonomische, kommunikationswissenschaftliche und soziologische Aspekte involviert; beispielsweise in puncto interkultureller Kommunikation innerhalb von Forschungsteams oder der Wahl des bestmöglichen Standorts für neue Observatorien.
Sicherlich kann das vorliegende Werk somit nur einen unvollständigen Einblick ermöglichen. Die Vielfalt der behandelten Themengebiete überzeugt aber trotzdem; nicht zuletzt, weil neben bekannten und etablierten Verbindungen wie der Astronomie mit der Hochenergiephysik auch Verknüpfungen zur Sprache kommen, über die bisher weniger zu lesen war. Dazu gehören etwa die Einbindung von biologischen Evolutionstheorien in die Kosmologie oder auch die Erkenntnis, dass unser Gehirn Wirklichkeit individuell konstruiert und so bei der Theoriebildung und Datenauswertung neurowissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt werden müssen. Auch Beschreibungen, wie Astronomie in Museen betrieben wird, wie bei der zunehmenden Datenflut ein sinnvolles internationales Wissensmanagement aussehen könnte oder das beruflich-private Fazit eines Astronomenlebens gehören zum Repertoire des Buchs.
Es sind nicht nur, aber besonders diese "exotischen" Themen, welche das Werk lehrreich und lesenswert machen. Spannend ist dabei, dass wir uns immer wieder in einem Metadiskurs befinden, also in der Diskussion über Astronomie und nicht in der Astronomie an sich.
Der Leser trifft auf Gedankenmodelle, die zum Weitersinnieren anregen: Wussten Sie zum Beispiel, dass die Astrologie ihre hohe Fehlerquote bei Vorhersagen damit erklärt, dass so genannte dark planets unser Sonnensystem bevölkern? Unentdeckte Himmelskörper, welche die Horoskope beeinflussen, ohne dass sich die Astrologen dagegen wehren könnten. Oder haben Sie schon einmal daran gedacht, dass der Kosmos mit all seinen Rätseln nur geschaffen wurde, damit wir ihn während unseres Daseins erforschen können und uns nicht langweilig wird? Sozusagen eine gewaltige kollektive Beschäftigungstherapie.
Wenn wir in der Vielfalt der Auswahlmöglichkeiten fehlende Aspekte des Buchs kritisieren wollen, dann gehören dazu zum einen Themen wie ferngesteuerte Sternwarten oder auch die forensische Astronomie, die in Gemälden und sonstigen Zeitzeugen nach Hinweisen für astronomische Ereignisse und Weltbilder sucht. Zum anderen fällt auf, dass die Sozialwissenschaften weniger intensiv behandelt werden als übrige Naturwissenschaften oder die Ingenieurskunst. Über interkulturelle Verhaltens- und Kommunikationsprobleme in internationalen Astronomenteams ist bisher wohl nur wenig geforscht worden, und eine medienhistorische Aufarbeitung der astronomischen Wissenschaftskommunikation hat wohl auch noch nicht stattgefunden.
Bis auf das Physikkapitel kommen alle Aufsätze weit gehend ohne Formeln aus und sind auch für den interessierten Laien verständlich Das Buch beinhaltet zudem einige wertvolle Tabellen; beispielsweise eine Übersicht über die derzeitigen Weltraummissionen oder eine Auflistung, welche Projekte die Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten forderte und was danach effektiv umgesetzt wurde. Ein Buch über Interdisziplinarität regt dazu an, selbst interdisziplinärer zu denken. Wer bereit ist, diesen mühsamen Weg zu gehen und sich nicht nur für astronomische Ergebnisse, sondern auch für die Astronomie und ihre Vernetzungen selbst interessiert, sollte dieses Buch lesen. Es lohnt sich.
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