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Irrlichtern in den Welten der Physik

War es das "Higgs" oder der natürliche Drang einfach noch einen "drauf zu setzen"? Letzteres bezieht sich auf Unzickers erfolgreiches Debüt "Vom Urknall zum Durchknall – Die absurde Jagd nach der Weltformel" aus dem Jahr 2010. Die darin publikumswirksam ausgebreitete Kritik der modernen Physik gipfelte in der kategorischen Ablehnung des (hypothetischen) Higgs-Bosons. Der Autor nimmt auf seiner Webseite sogar Wetten über dessen Nicht-Existenz an. Mittlerweile meldete das CERN, das Teilchen sei mit dem Large Hadron Collider so gut wie nachgewiesen worden. Das Medienecho war riesig. Hierauf musste Unzicker natürlich reagieren – mit energischem Widerspruch!

Ein weiterer Aspekt: Bücher verkaufen sich gewöhnlich am besten, wenn sie möglichst breit und dazu noch möglichst kontrovers diskutiert werden. Was lag also näher, aus dem "Durchknall" einen "Holzweg" zu machen und die bewährte Platte mit neuem Titel wieder aufzulegen. Da ich bereits Unzickers erstes Buch rezensiert hatte, war ich nun gespannt: Ist das Werk der befürchtete Klon oder eine Fortsetzung mit neuen Aspekten – oder vielleicht sogar eine völlig neue Sicht der Dinge? Meine Befürchtungen haben sich leider bewahrheitet und nach 300 anstrengenden Seiten frage ich mich: Wer hat sich hier eigentlich "verlaufen"?

Zunächst zu den Gemeinsamkeiten der beiden Bücher. Da ist natürlich das Thema: der vom Autor als kläglich empfundene Zustand der modernen Physik, dessen Ursache auch im erstarrten Wissenschaftsbetrieb zu suchen sei. Wie zu erwarten ist der Text eine nicht enden wollende Beschimpfung der gegenwärtigen Physik – zugegeben, wieder ausgesprochen fantasievoll formuliert aber auf Dauer ermüdend. Jeder Abschnitt wird mit einer erneuten Variation des Grundtenors abgeschlossen, etwa "Wie Bakterienstämme ihre Gene austauschen, so verwenden Astro- und Teilchenphysiker heute gegenseitig ihre freien Parameter, um gegen jede Falsifizierung immun zu werden." oder "Die oberflächliche Ordnung wurde ja erst möglich, nachdem man jahrelang gedankenlos Teilchen produziert hatte. Das unvermeintliche Aufstoßen nach einer schwelgerischen Orgie von Messungen wurde als Bußfasten verkauft." Dies sind nur zwei von einigen hundert Beispielen.

Es gibt kaum ein Gebiet, das im Buch nicht sein Fett abbekommt, ganz gleich ob es dabei um Theorie, Methodik oder Experiment geht. Dabei hat der Autor bei seinem Rundumschlag wieder besonders die Standardmodelle der Elementarteilchenphysik beziehungsweise Kosmologie auf dem Kieker. Für das überschwere Higgs, die scheue Dunkle Materie oder das aus der "Gruppenpest" auferstandene Quarkmodell zeigt er nur Verachtung. Intelligent und in geschliffenen Metaphern, bisweilen an der Grenze zur Arroganz, wettert er über ausufernde Spekulationen und freie Parameter mit denen man theoretisch alles erklären könne ("mit vielen Stellschrauben lässt sich gut justieren"). Schuld sei letztlich der internationale Physikbetrieb mit seinen strengen Hierarchien, Karriereregeln und der "Dominanz des Mainstreams bei Veröffentlichungen", wodurch jedes Querdenken wirksam unterdrückt werde: "So zieht eine Art soziale Schwerkraft die Physik immer tiefer in eine Komplexität mit absurden Zügen, und ironischerweise scheint in diesem unkontrollierten Massenphänomen ein Naturgesetz noch zu gelten: die Zunahme der Entropie, das Streben nach Unordnung – der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik." Wie ein Mitglied der Piratenpartei plädiert er für umfassende Transparenz, die "Offenlegung aller Rohdaten". Macht es wirklich Sinn, Billionen Elektron-Positron-Annihilationen für notorische Zweifler ins Internet zu stellen? Ich stelle mir den Autor schon vor, wie er Exabyte von CERN-Daten durchstöbert, um die Existenz von Quarks, schweren Neutrinos und Higgs-Bosonen zu widerlegen.

Eines muss man dabei aber neidlos anerkennen: Unzicker hat sich mit vielen Themen intensiv beschäftigt, wobei das meiste auf Literaturstudium, Internetrecherche (Preprint-Server) und Kommunikation mit Physikern beruht (wie man etwa an den vielen Endnoten und der Literaturliste ablesen kann). Diese Arbeit muss jedenfalls viel Zeit gekostet haben – und sicher auch einiges Geld, denn der Autor scheint viele internationale Tagungen besucht zu haben. Unerwähnt bleibt, dass er hier nicht immer eine gute Figur gemacht hat. Unzicker, promoviert in Hirnforschung, ist "nebenberuflich" als Physiklehrer an einem bayrischen Gymnasium tätig

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Gibt es auch Unterschiede zum ersten Buch? Ja, aber die betreffen hauptsächlich die Art der Darstellung. Das Layout wirkt schicker und der Inhalt ist übersichtlicher nach Fachgebieten gegliedert: Raum und Zeit, Gravitation, Atom-, Kern- und Teilchenphysik, Schwarze Löcher, Dunkle Materie/Energie, Quasare, Kosmologie. Auffallend ist die Fülle von provokanten Überschriften, die man aber irgendwann einfach übergeht, so einfallsreich sie auch sind: "Mach gegen Einstein, beide gegen Newton", "Das letzte Gebot: Du sollst nicht Nachdenken", "Teleskope in Deckung, die Theoretiker kommen" und etwa 200 weitere. Auf nahezu jeder Seite findet sich (vom Text abgesetzt) ein Aphorismus, der die jeweilige Aussage untermauern soll – eine enorme Fleißarbeit, denn das Internet kann hier nur begrenzt helfen,etwa mittels aphorismen.de. Als Zeugen kommen zu Wort: Goethe, Lichtenberg, Nietzsche, Kuhn, Mach, Einstein, Pauli, Dirac und viele andere bekannte und unbekannte Denker. Geschickt bringt der Autor eine bunte intellektuelle Truppe für seine Physikattacke in Stellung. Der verängstigte Theoretiker sollte sich also schleunigst unter seinen Schreibtisch verkriechen!

Was ist nun mit der in epischer Breite dargestellten Krise der Physik? Treibt diese Wissenschaft mit ihren modernen "Epizykeln" dem Bankrott entgegen? Steht gar eine neue kopernikanische Wende bevor? Unzicker, der "naturwissenschaftliche Ketzer" (Klappentext), beschwört dazu die Geister von Newton, Maxwell, Einstein, Dirac, Schrödinger und Feynman – obwohl auch deren Elektrodynamik, Relativitäts-, Gravitations- und Quantentheorie nicht ungeschoren davonkommen. Den meisten lebenden Physikern liest er dagegen gehörig die Leviten, egal ob Nobelpreis- oder Wasserträger. Sie sollten sich gefälligst auf die alten Werte besinnen (Grundlagenstudium, einfache Theorie, saubere Experimente) und sich nicht in multidimensionalen Konstrukten verlieren. Deren Arbeiten werden hinsichtlich Ansatz, Methodik und Ergebnis heftig kritisiert – die der wenigen Querdenker sind natürlich sauber. Konsequent blendet Unzicker nahezu alles aus, was die moderne Physik und Astrophysik erreicht hat – und das ist meines Erachtens eine ganze Menge. Seine Mission ist dagegen: Anprangern was sie alles noch nicht oder gar falsch verstanden hat. Dass es hiervon genug gibt, liegt in der Natur der Sache – aber rechtfertigt das die dargebotene Einseitigkeit? Was ist denn zum Beispiel mit wirklich komplexen Fachgebieten wie etwa Biochemie oder Hirnforschung. Haben die ihr Dasein verwirkt, nur weil noch nicht erklärt wurde, was Leben und Bewusstsein ist? Der Autor predigt die Einfachheit der physikalischen Welt und bemängelt jede Art von komplizierter Modellbildung – aber wer sagt denn, dass die Natur einfach sein muss?

Eine derart penetrante Fundamentalkritik, die selbst vor Gravitationsgesetz und Maxwell-Gleichungen nicht Halt macht, ist bislang einmalig in Deutschland; ich kenne jedenfalls kein vergleichbares Werk – der "Durchknall" zählt hier natürlich nicht. Was ebenfalls nicht zählt, sind pseudophysikalische Pamphlete mit denen die physikalischen Institute lange torpediert wurden und die heute das Internet überfluten. Deren Autoren fallen durch erschreckende Unkenntnis auf und leugnen, ohne dies zu überblicken, die gesamte Physik. Die Frage ist: Soll man diesen Verschwörungstheoretikern öffentlich entgegentreten (und sie damit noch populärer machen) oder soll man sie einfach ignorieren (und damit viele Leser unaufgeklärt lassen). Ich sehe hier natürlich keine inhaltliche Verbindung zum Werk von Alexander Unzicker. Obwohl: Kürzlich hat er für ein pseudowissenschaftliches Buch das Vorwort verfasst; frei nach dem Motto: Man muss auch "alternativen Ideen" Raum geben, Kritik und Selbstkritik gehen daher leider oft getrennte Wege. Was die Werke des Autors betrifft, so verfügen die meisten Käufer wohl nicht über dessen breites Fachwissen. Womit sich die Frage stellt: Wie sollen sie entscheiden, ob die darin enthaltene Kritik berechtigt ist oder nicht? Ich sehe hier eine große Gefahr für das Ansehen der Physik und den Ruf der Physiker im Besonderen. Es gibt sicher viel am derzeitigen Wissenschaftsbetrieb zu kritisieren aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sich die Protagonisten keine Gedanken über die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit machen und der Selbstkritik generell abgeschworen haben. Ansonsten hätten wir die Forschung einem "Exzellenzcluster" von Scharlatanen überlassen. So falsch wie hier dargestellt kann die Physik nicht sein, sonst müsste dem Autor der Laserpointer (als Produkt der Quantenphysik) beim nächsten Vortrag wie Teufelswerk aus der Hand fallen.

Der hier verfolgte populistisch-polemische Ansatz gefällt mir nicht, auch wenn ich selbst an einigen Theorien stark zweifle, allen voran die Stringtheorie. Ich denke aber, wissenschaftliche Spekulationen müssen erlaubt sein, auch ohne deren unmittelbare Nachprüfbarkeit. Wir wären sonst sicher nicht auf dem heutigen Stand der Erkenntnis. Übrigens, so sehr dem Autor Spekulationen zuwider sind, so gerne beteiligt er sich selbst an ihnen. Ein Beispiel sind seine euphorischen Ansichten zu Diracs Rätsel der "große Zahlen", wie dem Verhältnis der "Radien" von Universum und Proton (eine vierzigstellige Zahl) oder dessen ungefähres Quadrat, die kosmischen "Protonenzahl"; an anderer Stelle zieht er solche unbestimmbaren Größen gnadenlos durch den Kakao. Auf Paul Dirac lässt Unzicker aber nichts kommen, seine Verehrung für den scheuen englischen Mathematiker durchzieht das ganze Buch. In die gleiche Kategorie fällt die Schwärmerei für eine veränderliche Lichtgeschwindigkeit oder die Zahlenmystik der Feinstrukturkonstanten 1/137 – hat Pauli hier nicht schon genug Unheil angerichtet?

Zu den potenziellen Lesern. Einige erwarten vielleicht eines dieser populärwissenschaftlichen Bücher, die heute den Markt überschwemmen: die x-te Variation des Schwarze Löcher-Urknall-Quanten-Dramas. Andere erhoffen sich aufgrund der Werbung eine Art "Neues Testament": Endlich räumt mal jemand im maroden Tempel der Physik auf! Unzickers Buch ist aber weder das eine noch das andere, sondern ein physikalisches Horrorkabinett von vermeintlichen Schwachstellen, losen Enden und Irrwegen. Hatte der Autor die hehre Absicht, die Welt endlich wachzurütteln, so ist die Umsetzung leider misslungen: Gnadenloses Draufschlagen gepaart mit notorischer Besserwisserei sind generell nicht zielführend. Dies fordert den Widerspruch des Establishments geradezu heraus und, was noch schlimmer ist, wissenschaftlich interessierte Laien könnten sich verstört abwenden, müssen sie doch den Eindruck gewinnen, die Physik sei nur ein Konglomerat von Falschaussagen.

Bleibt die Frage nach den Alternativen. Belässt es der Autor bei seinem "Physik-Bashing" oder sieht er Auswege aus der Krise oder gar Chancen für eine Heilung des Patienten? In der Tat gibt es dazu am Ende ein Kapitel: "Wider den Glaubenszwang: Vorschläge für eine methodische Sanierung". Den Theoretikern empfiehlt er hier ein "Nachdenken in Ruhe (...) eine Zeit des Reflektierens, wie sie ein Kepler oder Newton benötigte". Den Experimentalphysikern gibt er sogar zehn Vorschläge mit auf den Weg, in denen es erneut um die Forderung nach Transparenz geht: öffentlich zugängliche Rohdaten, Bearbeitungsmethoden und Dokumentationen. Unzicker sieht hier das Internet als universelles Werkzeug, um "die Jahrzehnte hinterherhinkende Methodik der Physik wieder mit der modernen Datenverarbeitung gleichziehen zu lassen". Das dürfte angesichts der ständig steigenden Datenmengen eher unrealistisch sein. Wichtige Versuche sollten überdies regelmäßig wiederholt werden. Leisten das nicht schon Schule und Uni oder geht es hier um Großversuche? Dann kann aber beispielsweise der Nachweis der Neutrino-Oszillationen – oder noch schlimmer: des Higgs-Bosons – nicht gemeint sein, denn so etwas lehnt der Autor ja kategorisch ab.

Mein Urteil über dieses Buch unterscheidet sich deutlich von den positiven Zitaten auf dem Umschlag, wie etwa "Das Buch erfüllt in dem dialektischen Prozess, der Wissenschaft sein sollte, eine lange überfällige Rolle". Ich frage mich: Was hätte wohl der sensible Dirac dazu gesagt? Mir jedenfalls hat schon der "Durchknall" – laut Bild der Wissenschaft das "brisanteste Wissenschaftsbuch des Jahres 2010" – gereicht, wozu also noch ein beschwerlicher "Holzweg"? Offen bleibt auch die eingangs gestellte Frage, was den Autor bewogen hat, sein Credo zu wiederholen. Ich will darüber nicht weiter spekulieren und hoffe nur, dass die angekratzte Platte nicht ein drittes Mal aufgelegt wird.

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