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Die unvollendete Revolution, unvollendet erzählt

Die Kompetenz des Autors in Sachen Albert Einstein ist über jeden Zweifel erhaben. Jürgen Renn ist Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, Autor und Koautor zahlreicher Publikationen über den Schöpfer der Relativitätstheorie, insbesondere der "Einstein Annalen Papers", und er wurde bekannt durch die Ausstellung "Albert Einstein – Ingenieur des Universums", die im Einstein-Jahr 2005 in Berlin stattfand. In der Tat kommt man bei der Lektüre auf seine Kosten, wenn man sich tiefer mit dem Werk des genialen Physikers befassen möchte.

Ich habe vieles gelernt, was ich vorher nicht wusste. Renn zeichnet kenntnisreich den Weg des kleinen Patentamtsangestellten zur Speziellen Relativitätstheorie vor dem Hintergrund der Entwicklung der Physik seiner Zeit nach und zeigt, auf welch mannigfache Weise die scheinbar so heterogenen Beiträge des Jahres 1905 untereinander verwoben sind, sodass sie als Teile eines Ganzen erscheinen. Im zweiten Teil des Buchs geht es um die verschlungenen Pfade und Irrwege, die Einstein zur Allgemeinen Relativitätstheorie führten. Auch dies ist eine faszinierende Geschichte. Man sieht, wie Einstein mühsam und mit enormer Hartnäckigkeit von einem konstruktiven Irrtum zum nächsten voranschreitet, bis sich schließlich alles in das bekannte Theoriengebäude fügt.

Trotzdem bin ich nach der Lektüre des Buchs nicht so recht glücklich. Das Wiedersehen mit amateurmarxistischen Floskeln der 1970er Jahre – "vom Kopf auf die Füße stellen", "geschuldet" – hat noch nostalgische Gefühle ausgelöst, einige Stilblüten und Leerformeln eher Erheiterung. Aber bei der Mathematik, die bei einem Thema wie der Allgemeinen Relativitätstheorie kaum zu vermeiden ist, wird es mühsam. Anscheinend mag der Autor sie nicht. Wohlgemerkt, mir ist klar, dass in der theoretischen Physik die Sprache der Mathematik eher ein Alltagsdialekt ist und man sich mit einem notwendigen Minimum an Präzision zufriedenzugeben hat. Aber selbst dieses Minimum vermisst man in dem Buch.

Der Begriff der Metrik wird wie folgt eingeführt (S. 202): "Während im gewöhnlichen euklidischen Raum eine Metrik gewählt werden kann, die die unmittelbare physikalische Bedeutung der räumlichen Distanz zwischen zwei Punkten hat, lässt sich in Minkowskis vierdimensionaler Raumzeit mit Hilfe der dortigen Standardmetrik über die Bestimmung räumlicher und zeitlicher Abstände hinaus in konziser Weise die Kausalstruktur der Physik gemäß der speziellen Relativitätstheorie darstellen." Kein Zweifel, der Stoff ist schwer. Aber solche Formulierungen machen ihn schwerer, als er ist, und für den Leser, der "sich noch ein paar Schulkenntnisse in Physik bewahrt hat und genügend Geduld für die schwierige Materie mitbringt" (Vorwort), praktisch unzugänglich. Ausgerechnet die beiden zentralen Begriffe "Metrik" und "Divergenz" haben in der Fachsprache je zwei deutlich verschiedene Bedeutungen; aber Renn wirft die beiden Bedeutungen von "Metrik" hoffnungslos durcheinander und verwendet von "Divergenz" stillschweigend diejenige, die man in der Schule gerade nicht lernt.

Der Autor geht auch auf die Geschichte von Hilberts Druckfahnen ein (vergleiche meine Besprechung in Spektrum der Wissenschaft 9/2006, S. 100), allerdings gegenüber früheren Verlautbarungen recht zurückhaltend. Wenn er jedoch andeutet, Einstein habe Emmy Noethers wichtiges und berühmtes Wissenschafts geschichte Die unvollendete Revolution, unvollendet erzählt Die kenntnisreiche Darstellung eines spannenden Themas leidet an mangelnder begrifflicher Klarheit. Theorem vorweggenommen, dürfte er mit der – verständlichen – Sympathie des Historikers für den Gegenstand seiner Untersuchungen zu weit gehen.

Die wissenschaftshistorischen Theorien des Autors kranken an mangelnder Klarheit der Begriffe und kühnen Verallgemeinerungen: Was hat die heliozentrische Theorie des Kopernikus mit der Ablösung der Phlogistontheorie und der Relativitätstheorie an "typischen" Merkmalen gemeinsam, dass es sinnvoll wäre, den Begriff des "Kopernikus-Prozesses" einzuführen und ihm eine zentrale Rolle zuzuweisen, ohne dass er je wirklich definiert würde?

Renn diagnostiziert Defekte im Wissenschaftsbetrieb, die weder neu sind noch in der beschriebenen Schärfe auftreten – die Rolle von Hierarchien, Karrierestrukturen, den Warencharakter des Wissens und andere –, und bietet enttäuschend hausbackene Rezepte zur Abhilfe an: die elektronischen Medien als Träger einer neuen Wissenskultur, Interdisziplinarität, Verantwortung des Wissenschaftlers, Reflexion, Wissensintegration und -vernetzung. Wem sind eigentlich solche Ideen noch nicht gekommen?

Ärgerlich sind die häufigen Ausfälle des Autors gegenüber denjenigen seiner Kollegen, die sich der mühsamen Editionsarbeit widmen. Ich weiß, dass diese Arbeit frustrierend ist, dass es immer schwieriger wird, sie zu finanzieren, und dass sie immens wichtig ist – jedenfalls für mich. Man findet in dem Buch immer wieder böse und ungerechte Charakterisierungen, so zum Beispiel auf Seite 28: "investieren Förderorganisationen, Universitätsverlage und Akademien immer noch Millionen in Herausgeber, die wenig herausgeben, und in Editionsprojekte, die mehr und mehr zu einem Flaschenhals der Forschung geworden sind." So schlecht, wie Renn die Editoren hier macht, sind sie sicherlich nicht.

Das Buch enthält wichtige und interessante Einzelheiten über Einsteins Weg zu seinen Theorien. Allerdings muss man diese Einzelheiten aus langen schwülstigen Sätzen und ungenauen Formulierungen herausdestillieren. Zur Physik selbst gibt es andere, lesbare Bücher in großer Zahl.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 3/2007

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