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»Komplexe neue Welt und wie wir lernen, damit klarzukommen«: Unser undurchschaubares Leben

Auch wenn wir komplexe Phänomene nie vollständig erfassen können, lohnt es sich, über sie nachzudenken. Marco Wehr beschreibt das Labyrinth, in dem wir leben.

Jeder von uns nimmt bestimmte Ereignisse oder Prozesse als undurchschaubar wahr. Oft haben wir das Gefühl, dass durch die zunehmende Komplexität unseres Lebens immer mehr Menschen von den Vorgängen um sie herum regelrecht ausgeschlossen werden. Viele Nachrichten, die uns über die traditionellen Medien erreichen, können wir kaum mehr wirklich verstehen. Und die zusätzlichen, oft nicht überprüften beziehungsweise überprüfbaren Informationen, die uns das Internet und die sozialen Medien bieten, machen es nicht immer leichter, die Welt zu begreifen. Auch die vielen, oft durchaus seriösen Informationsangebote helfen uns im Alltag nicht immer weiter. Möchte etwa ein Abiturient studieren, so kann er in Deutschland zwischen 20 000 Studiengängen wählen. Und wollen wir einen neuen Handyvertrag abschließen, so fällt eine rationale Entscheidung trotz (oder gerade wegen) der vielen verfügbaren Informationen schwer.

Marco Wehr geht diesen alltäglichen Überforderungen auf den Grund. Er unterscheidet dabei zwischen komplizierten und komplexen Systemen. In einem komplizierten System existieren eindeutig definierte Verbindungen zwischen seinen zahlreichen Elementen. Ein Kraftfahrzeug, ein ICE oder ein Smartphone sind komplizierte Systeme, deren Aufbau und Funktionen Laien kaum nachvollziehen können. Aber die technischen Zusammenhänge ihrer vielen Komponenten sind kausal miteinander verknüpft, und auch Wechselwirkungen können verlässlich vorhergesagt werden. Im Gegensatz dazu sind die Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung in komplexen Systemen unüberschaubar; sie können im Grunde genommen selbst von Fachleuten nicht vollständig erfasst werden.

Die Pandemie als Paradebeispiel

Dabei ist es hilfreich, natürliche Ereignisse wie Erdbeben, Vulkanausbrüche oder extreme Wetterphänomene von menschengemachten Netzwerken zu unterscheiden. Denn es sind vor allem die modernen Technologien, die über Handys, das Internet oder eine weltweit vernetzte Ökonomie unser Leben immer komplexer werden lassen. Das gilt insbesondere auch im Hinblick auf globale Lieferketten und die empfindliche Energieinfrastruktur, zwei der zentralen Grundlagen unseres Wohlstands. Da aber so viele Lebensbereiche von ihnen durchdrungen sind, wird unser Alltag insgesamt störanfällig. Der Autor beschreibt beispielsweise, wie die nur sechs Tage dauernde Havarie eines Schiffs im Suezkanal die gesamte Weltwirtschaft negativ beeinflusste. Und viele intransparente, aber global wirksame Algorithmen können jederzeit ein unberechenbares Eigenleben entwickeln, wie dies bereits im Oktober 1987 bei einem der größten Börsencrashs der Geschichte zu beobachten war.

Auch unbeeinflussbare Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Vulkanausbrüche können unsere lebensnotwendige und empfindliche Infrastruktur schädigen. Der globale Handel, der einen ungestörten Luft- und Seeverkehr voraussetzt, kann durch solche Ereignisse zum Erliegen kommen. Was wäre, wenn ein Erdbeben die empfindlichen Datenkabel zerstörte, von denen das Internet abhängt? Und sind wir auf den Ausbruch eines Supervulkans vorbereitet, wenn Solarmodule und Windkrafträder dann kaum noch genug Energie für unseren Alltag liefern oder massive Ernteausfälle unsere Ernährung gefährden? Das sind Beispiele für seltene, aber nicht allzu unwahrscheinliche Ereignisse. Dies illustrieren der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora 1815, der einen vulkanischen Winter zur Folge hatte, oder ein Ionensturm (»Carrington-Ereignis«) 1859, der die Telegraphie teilweise lahmlegte und dazu führte, dass Kompasse die Richtung des Erdmagnetfelds nicht mehr anzeigen konnten.

Wichtig zu erwähnen ist auch, wie stark natürliche Ereignisse und menschengemachte Systeme heute durch Wechselwirkungen miteinander verbunden sind – dies hat uns kürzlich die Coronapandemie überdeutlich vor Augen geführt. Angesichts solch komplexer Probleme besitzen wir oft nicht zu wenige, sondern eher zu viele Informationen, die das Geschehen unüberschaubar und das Finden von Lösungen ungeheuer schwer machen.

Auf die Grenzen der Modellierbarkeit und Berechenbarkeit komplexer Systeme weist Marco Wehr im Zusammenhang mit der Chaostheorie hin. Demnach können die allerkleinsten Effekte oder Änderungen von Rahmenbedingungen dazu führen, dass sich ein komplexes System grundlegend anders verhält als vorhergesagt. Dies bezeichnet der Begriff »Schmetterlingseffekt«, den der Mathematiker und Meteorologe Edward N. Lorenz 1963 prägte. Er bezieht sich darauf, dass in nicht linearen dynamischen deterministischen Systemen nicht vorhersagbar ist, wie sich sehr kleine Änderungen der Anfangsbedingungen langfristig auf die Entwicklung dieser Systeme auswirken.

Marco Wehr erläutert auch, in welchen Bereichen Komplexität in der Natur der Sache liegt und wie man am besten mit ihr umgehen kann. Dabei spannt er mit vielen Beispielen einen weiten historischen Bogen über verschiedene Fachgebiete und ihre langfristige Entwicklung bis hinein in die Gegenwart. Sein Buch ist interessant und flüssig geschrieben und jedem zu empfehlen, der zumindest den Versuch unternehmen möchte, sich einen Überblick über unsere komplexe neue Welt zu verschaffen.

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