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»A Little History of Mathematics«: Eine Reise durch die Geschichte der Mathematik

Kompakt und unterhaltsam ist diese kleine englischsprachige Weltgeschichte der Mathematik. Eine lohnende Lektüre, auch für Schüler und Studenten.

In den letzten Jahren veröffentlichte die Yale University Press London in der Reihe »Little Histories« lesenswerte (englischsprachige) Überblicke über die Geschichte einzelner wissenschaftlicher Fachgebiete, so jetzt auch über die Entwicklung der Mathematik. Die Autorin dieses Buchs, Snezana Lawrence, ist Dozentin für Geschichte der Mathematik an der Middlesex University London.

Der Verlag bewirbt das Werk mit einem begeisterten Vorabkommentar des Bestsellerautors Ian Stewart, dessen Größen der Mathematik vor einigen Jahren Maßstäbe gesetzt hat. In der Tat ist es der Autorin gelungen, die Entwicklung der Mathematik spannend zu erzählen – beginnend mit den ersten mathematischen Aktivitäten von Menschen, die vor 20 000 Jahren ihre Spuren auf Tierknochen hinterließen (sogenannten Ishango-Knochen). Im Unterschied zu Edmund Weitz, der in Gesichter der Mathematik die Geschichte des Fachs anhand kurzweiliger Porträts von 111 Persönlichkeiten beschrieb, hat Lawrence eine Aufteilung in 40 Zeit- und Themenabschnitte von jeweils etwa sieben Seiten gewählt. In deren Mittelpunkt stehen einzelne oder auch mehrere Persönlichkeiten, die zeitgleich zur Entwicklung von mathematischen Teilgebieten beigetragen haben.

Die Überschriften dieser Minikapitel sind geschickt gewählt; nur in wenigen Fällen ist der Name einer Persönlichkeit sofort erkennbar (etwa bei »Maryam‘s Magic Wand« der Hinweis auf die Fields-Preisträgerin Maryam Mirzakhani). – Meist ahnt man nur, welche Mathematiker jeweils im Mittelpunkt der Kapitel stehen könnten; und wer sich nicht allzu gut in der Geschichte der Mathematik auskennt, wird vielleicht durch eher geheimnisvolle Überschriften neugierig gemacht (etwa »The Game That Never Stopped«). Die einzelnen Abschnitte werden durch eindrucksvolle Linolschnitte der Grafikerin Kat Flint eingeleitet, die sich jeweils auf die im folgenden Abschnitt behandelten Themen oder Persönlichkeiten beziehen.

Geschichte im Zeitraffer

Es macht Freude, die einzelnen Geschichten zu lesen: Der Autorin gelingt es durch ihren lebendigen Erzählstil, ihre Leser in die einzelnen Epochen und an die Orte des jeweiligen Geschehens mitzunehmen. Lawrence bemüht sich auch, die mathematischen Sachverhalte in einer möglichst einfachen Sprache und beispielgebunden zu erklären, erläutert in den Anfangskapiteln selbst so grundlegende Begriffe wie »Primzahlen« und »Primfaktorzerlegung«. Gleichwohl kommt diese Methode, Sachverhalte auch für mathematische Laien anschaulich zu vermitteln, ab der Mitte des Buches immer wieder an ihre Grenzen. Dies gleicht Lawrence durch spannende Erzählungen der Lebensumstände der handelnden Personen aus.

Die Autorin verzichtet auf ein Vorwort; stattdessen verdeutlicht sie anhand der Spekulationen über die rätselhaften Markierungen auf den Ishango-Knochen, dass alle mathematischen Theorien, so komplex sie auch sein mögen, mit Überlegungen zu einfachen Sachverhalten begonnen haben. Zu diesen haben dann Menschen in nachfolgenden Generationen weiter reichende Zusammenhänge entdeckt und so immer wieder neue mathematische Forschungsbereiche eröffnet. Das Buch erzählt somit die spannende Geschichte der vielen aufeinanderfolgenden Durchbrüche (»breakthroughs«) in den Teilgebieten der Mathematik.

Wegen seines begrenzten Umfangs muss sich das Buch auf einzelne Ereignisse und Beispiele beschränken. Von kurzen Erläuterungen zur Tontafel »Plimpton 322« beziehungsweise zum »Papyrus Rhind« als Beispielen babylonischer und altägyptischer Mathematik geht es über die Entdeckung irrationaler Zahlen durch die Pythagoräer sowie Platons regelmäßige Körper zügig zu Euklids »Elemente«. Über Archimedes wird nur berichtet, dass er eine bemerkenswerte Abschätzung für die Kreiszahl π fand – aber nicht, wie ihm dies gelang; andere, eigentlich sensationelle Entdeckungen wie etwa seine exakte Bestimmung des Flächeninhalts eines Parabelsegments werden nicht einmal erwähnt.

Eine kleine Weltgeschichte der Mathematik

Die Entwicklung der Mathematik außerhalb Mesopotamiens, Ägyptens und Europas wird ebenfalls kurz präsentiert. Liu Huis Buch »Neun Kapitel mathematischer Kunst« repräsentiert die chinesische Mathematik, die sich unabhängig von der europäischen entwickelte. Aryabhata und Bhaskara sowie die Erfindung der »Null« stehen für die Entwicklung in Indien – die Leistungen der Kerala-Mathematiker, die vor Newton und Leibniz die Reihenentwicklung von Funktionen entdeckten, werden hier nicht einmal genannt. Mit Blick auf die Mathematik im islamischen Kulturbereich werden al-Khwarizmis und al-Karajis Beiträge gewürdigt. Ungewöhnlich, dass außerdem al-Kindīs Abhandlung über die Verschlüsselung von Texten erwähnt wird – nämlich als Vorläufer zu den britischen »codebreakers at Bletchley Park« während des Zweiten Weltkriegs. In der japanischen Mathematik wird insbesondere die Entdeckung trigonometrischer Funktionen und die faszinierende Tempelgeometrie (Sangaku) thematisiert.

Dass Frauen in der Geschichte der Mathematik eine immer größere Rolle gespielt haben und spielen werden, wird insbesondere in den Abschnitten über Emmy Noether und Maryam Mirzakhani deutlich; auch werden Hypatia von Alexandria, Maria Agnesi, Émilie du Châtelet, Mary Everest Boole und die jüngste Fields-Preisträgerin Maryna Viazovska erwähnt, Sophie Germain und Sofia Kowalewskaja allerdings nicht.

Über die von der Autorin getroffene Auswahl lässt sich sicherlich streiten (von Gauß wird etwa nur berichtet, dass er sich mit nichteuklidischer Geometrie befasst, aber nichts veröffentlicht habe). Dennoch wäre es nicht angemessen, das Buch insgesamt nach seinen »Lücken« zu bewerten; und auch die kleinen Ungenauigkeiten und Fehler fallen nicht übermäßig ins Gewicht. In der Gesamtschau der dargestellten Inhalte, der historischen Entwicklungen sowie der Beschreibung der handelnden Persönlichkeiten hat die Autorin ein durchweg lesenswertes, flüssig geschriebenes und anekdotenreiches Buch verfasst, das viele Phasen der Mathematikgeschichte angemessen darstellt, auch wenn es sich oft tatsächlich nur auf die »breakthroughs« beschränkt. Hervorzuheben ist, dass die Mathematik des 20. Jahrhunderts und damit ihre jüngere Geschichte über ein Viertel des Buchs einnimmt.

In fast allen Abschnitten findet man einfache, aber ihren jeweiligen Zweck erfüllende Grafiken. Das 16 Seiten umfassende Stichwortverzeichnis ist nützlich, wenn man nach bestimmten Informationen im Text suchen möchte. Leider enthält das Buch keine Hinweise auf weiterführende Literatur; da ob der Dichte der Darstellung etliche Aspekte und Persönlichkeiten zu kurz kommen müssen, wären Empfehlungen zum Weiterlesen hilfreich gewesen.

Das unterhaltsam und in nicht zu anspruchsvollem Englisch geschriebene Buch ist allen zu empfehlen, die sich einen ersten Überblick über die Geschichte der Mathematik verschaffen wollen; es ist auch geeignet für ältere Schüler und Studenten.

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