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Buchkritik zu »Abels Beweis«

Eine algebraische Gleichung fünften Grades ist im Allgemeinen nicht mehr durch Radikale auflösbar. Das heißt, es gibt keine Formel, die außer den Grundrechenarten nur das Ziehen von Quadrat-, Kubik-, vierten, … Wurzeln enthält und mit der man aus den Koeffizienten a, b und c einer Gleichung wie ax5 + bx + c = 0 die Lösungen der Gleichung errechnen könnte. Mit dem Beweis dieser Unmöglichkeitsaussage machte 1826 Niels Henrik Abel jahrhundertelangen vergeblichen Bemühungen, eine solche Formel zu finden, ein Ende.

Das Leben des norwegischen Mathematikers bietet genug Stoff für ein klassisches Drama vom verkannten Genie: 1802 als Sohn eines Pfarrers geboren, muss er bereits mit 18 Jahren die Verantwortung für seine acht jüngeren Geschwister übernehmen. Förderer, die seine außergewöhnliche Begabung erkennen, ermöglichen ihm eine Reise nach Paris, dem damaligen Weltzentrum der Mathematik. Dort aber finden seine bahnbrechenden Ergebnisse keine Beachtung. Arm wie eine Kirchenmaus kehrt er nach Norwegen zurück und stirbt 1829, mit kaum 27 Jahren, an der Schwindsucht, wenige Tage bevor der Ruf auf eine bezahlte Stelle in Berlin eintrifft.

Auch diese Geschichte findet sich in dem Buch des amerikanischen Wissenschaftshistorikers Peter Pesic, der Lesern dieser Zeitschrift durch seinen Artikel über die "Identität der Quanten" (1/2003, S. 56) bekannt ist. Aber sein zentrales Thema ist Abels wissenschaftliche Leistung; und die vermittelt er dem Leser mit allem, was man dafür wissen muss, angefangen mit der Entdeckung des Irrationalen durch die Schule des Pythagoras.

Aus der Schule kennt man noch die "Mitternachtsformel" zur Lösung quadratischer Gleichungen mit dem doppelten Vorzeichen Plusminus vor der Wurzel, das man nur zu gerne vergisst. Um eine Formel dieser Art ging es den Algebraikern seit Anfang des 16. Jahrhunderts, als Girolamo Cardano (1501 – 1576) und Niccolò Tartaglia (1500 – 1557) die Formeln für die Gleichungen dritten Grades erarbeiteten und sich um die Priorität einen erbitterten Streit lieferten. Die Beziehungen zwischen Geometrie und Algebra, komplexe Zahlen, Permutationen, der Fundamentalsatz der Algebra, der uns die Gewissheit gibt, dass eine Gleichung fünfter Ordnung tatsächlich fünf Lösungen hat – das alles zählt zu den Voraussetzungen, die Pesic in den ersten fünf Kapiteln ausbreitet, bevor er zum eigentlichen Beweis kommt.

Von den Koeffizienten zur Lösung zu kommen ist schwer, aber der umgekehrte Weg ist leicht. Kurz nach der Mitternachtsformel kommt in der Schule der Vieta'sche Wurzelsatz: Wenn man die Lösungen erst einmal hat, erhält man die Koeffizienten als deren Summe beziehungsweise Produkt zurück. Entsprechende Formeln gibt es für Gleichungen höheren Grades. Sie sind – notwendigerweise - symmetrisch: Es kommt nicht darauf an, in welcher Reihenfolge man die Lösungen nummeriert.

Das ist der Ansatzpunkt für Abels Beweis. Wenn man eine Formel für die Lösungen der Gleichung fünfter Ordnung hätte, müsste sie fünf im Allgemeinen verschiedene Zahlen liefern. Wenn man diese wiederum auf algebraischem Wege verknüpft, kann das Ergebnis von ihrer Reihenfolge abhängen oder auch nicht; es kann für alle Reihenfolgen dasselbe herauskommen, es können zwei verschiedene Ergebnisse sein oder fünf oder im Extremfall 120, aber nicht drei oder vier. Das ist die Aussage, mit deren Hilfe Abel im Verlauf seines Beweises einen Widerspruch herleitet.

Woher gewinnt man diese Aussage? Heute würde man sagen: aus der Gruppentheorie, denn nur wenige Jahre nach Abel gab es ein anderes Junggenie, das früh und unter dramatischen Umständen, im Duell, sein Leben aushauchte: Évariste Galois (1811 – 1832). Der arbeitete die Lehre von den Vertauschungen der Reihenfolge (Permutationen) zu einer abstrakten Theorie aus. Elemente einer Gruppe kann man miteinander multiplizieren, aber die Multiplikation ist nicht immer kommutativ; ab kann also etwas anderes sein als ba. In einem gewissen Sinne ist es die Nichtkommutativität, die einer Auflösbarkeit der Gleichung fünfter Ordnung im Weg steht.

Heute nennt man eine Gruppe abelsch, wenn in ihr die Multiplikation stets kommutativ ist. Abel hat über seinen hier besprochenen Beweis hinaus weitere bahnbrechende Ergebnisse erzielt, und die Theorie der nichtkommutativen Gruppen findet Anwendungen in vielen Zweigen der Mathematik und der theoretischen Physik. Hierauf geht Pesic in den Schlusskapiteln ein.

Ja, Abels Beweis ist ein hartes Stück Mathematik. Aber er ist im Prinzip mit Schulmitteln zugänglich, und Pesic nimmt den Leser so bei der Hand, dass er nirgends ein Zwischenergebnis hinzunehmen hat, sondern alles nachvollziehen kann – nicht muss: Die richtig schweren Sachen stehen zum bequemen Überspringen in Kästen.

Nichts gegen den Dozenten, bei dem ich Algebra I hatte; das war eine gute Vorlesung. Aber so klar wie jetzt bei Pesic ist mir die Sache damals nicht geworden.
  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 12/2006

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