»Abenteuer der Moderne«: Wenn Widersprüche produktiv werden
Im Jahr 2005 erschien Daniel Kehlmanns Roman »Die Vermessung der Welt«. Hier stellte der Autor die Lebensgeschichten von Naturforscher Alexander von Humboldt und Mathematiker Carl Friedrich Gauß einander in einem Text gegenüber, der erdachte und belegte biografische Elemente miteinander verknüpfte. Obschon die beiden sehr verschiedene Menschen waren und ihre Vorhaben auf ganz unterschiedliche Weise angingen, hatten sie doch ein gemeinsames Ziel: eben die Vermessung der Welt. Während Kehlmanns Roman eine Debatte über Realität und Fiktion in der Literatur auslöste, beschäftigt sich das vorliegende Sachbuch mit Persönlichkeiten, deren Biografien deutlich besser dokumentiert sind.
Thomas Wagner verfolgt in »Abenteuer der Moderne« das Leben und Wirken zweier der wichtigsten Begründer der modernen Soziologie in Deutschland: Arnold Gehlen und Theodor W. Adorno. Wagner betrachtet – bis auf kurze Abschnitte über frühere Lebensphasen der Denker – vor allem die Zeit ab der ausgehenden Weimarer Republik bis nach der 68er-Revolution.
Was unterscheidet nun den berühmten Philosophen der Frankfurter Schule und seinen vermeintlichen Widerpart? Adorno musste während des Dritten Reichs Deutschland verlassen; Gehlen machte im Nationalsozialismus Karriere. Als die Schreckensherrschaft der Nazis beendet war, kam Adorno zurück und baute zusammen mit Max Horkheimer in Frankfurt das Institut für Sozialforschung neu auf. Gehlen dagegen kam wie so viele nach dem Fall der NS-Diktatur glimpflich davon und konnte seine Karriere im Nachkriegsdeutschland fortsetzen. Legt man nur diese Informationen zugrunde, könnte man annehmen, dass Gehlen und Adorno, die auch in ihren Schriften zur Philosophie und später zur Soziologie konträre Positionen vertraten, einander nicht gerade freundschaftlich zugetan sein konnten. Dem war allerdings nicht so – die beiden verband eine über Jahrzehnte andauernde Briefkorrespondenz.
Hypermoral und Wissenschaftsfreiheit
Thomas Wagner, Kultursoziologe und Preisträger des Wissenschaftspreises der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, porträtiert die beiden Denker in 15 Kapiteln, die einen Pro- und einen Epilog einschließen. Dabei zeigt er insbesondere, wo sich die beiden Größen der deutschen Soziologie – trotz aller Differenzen – in ihren Ansichten über Gesellschaft, Herrschaft und Individuum in der Moderne nahestanden. Chronologisch erzählend zeichnet der Autor dabei die prägenden Jahre nicht nur der jungen Soziologie, sondern auch der ebenso jungen Bundesrepublik nach und macht dabei die Probleme, aber auch die Chancen dieser Zeit erstaunlich konkret erfahrbar.
Gleichzeitig kommt auch die Theorie nicht zu kurz. Wagner arbeitet im Kontext der Zeit wichtige Begriffe wie etwa die »Hypermoral« Gehlens heraus – ein Konzept, das zuletzt wieder an Bedeutung gewonnen hat. Es beschreibt ein gesellschaftliches Klima, in dem zu viele theoretisch unvereinbare, moralisch aber je für sich durchaus nachvollziehbare Positionen miteinander konkurrieren – was das Entstehen moralisch aufgeladener Konflikte befördert; aktuell zu beobachten etwa in der linksliberalen »Bubble«, in der die Rechte verschiedener Minderheiten gegeneinander in Stellung gebracht werden.
An Beispielen wie diesem wird deutlich, warum die Ereignisse um die beiden Hauptfiguren nicht nur von historischem Interesse, sondern auch für das Verständnis der Gegenwart relevant sind. Wie nah sich etwa aus politischer Sicht absolut gegensätzliche Denker sein können, sieht man beispielsweise an der glühenden Verehrung, die Wolfgang Harich, einer der bedeutendsten marxistischen Philosophen der DDR, dem ehemaligen Nationalsozialisten Arnold Gehlen entgegenbrachte. Geradezu unheimlich aktuell wirken auch die Schilderungen der Proteste von Studenten des »Sozialistischen Deutschen Studentenbunds« (SDS) gegen Adorno; sie gemahnen an Aktionen der letzten Jahre, bei denen an deutschen Universitäten Lehrenden wieder das Wort versagt wurde.
Thomas Wagner selbst bleibt in »Abenteuer der Moderne« immer nüchtern und sachlich, von ideologischer Verklärung oder Verteufelung findet sich in seinem Buch keine Spur. Darin liegt vielleicht die größte Stärke dieses Werks, dessen Lektüre jedem an der deutschen Geistesgeschichte interessierten Leser unbedingt zu empfehlen ist. Es zeigt auf, wie selbst zwischen – aus ideologischer Sicht – erbittertsten Gegnern ein Dialog möglich ist, von dem eine ganze Wissenschaft, ja vielleicht sogar eine ganze Gesellschaft profitieren kann.
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