»Abgetaucht, radikalisiert, verloren?«: Die neuen alten Radikalen?
Sind Ältere die neuen Radikalen? Gibt es zu wenig demokratie- und diversitätsfördernde Präventionsangebote für Senioren? Ja, sagen Sarah Pohl und Mirijam Wiedemann in ihrem Buch. Pohl gehört zum Vorstand der »Zentralen Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen BW« in Baden-Württemberg. Ihre Co-Autorin Wiedemann ist Gymnasiallehrerin und war zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung Referentin einer »Arbeitsgruppe für gefährliche religiös-weltanschauliche Angebote« beim Kultusministerium Baden-Württemberg.
Die Autorinnen wissen also einerseits aus eigener Erfahrung, worüber sie schreiben. Andererseits stecken sie in einem Interessenkonflikt: Sie halten Demokratiebildung und Präventionsarbeit für eminent wichtig und bezüglich der älteren Generation für sträflich vernachlässigt. Doch ob sie das so objektiv beurteilen können, wenn sie selbst (zumindest teilweise) davon leben oder lebten?
Das Buch hat drei Teile, die sich mit Fakten, Ursachen und möglichen Lösungswegen befassen. Wie kaum anders zu erwarten, sind auch Ältere von Radikalisierungsprozessen betroffen. Vor allem in zwei Segmenten der rechten bis rechtsextremen Szene sind sie sogar statistisch überrepräsentiert: unter sogenannten Reichbürgern sowie in der oft esoterisch geprägten Querdenkerszene.
Zudem sind Ältere laut einigen Studien anfälliger dafür, auf manipulierte Bilder und Fake News im Internet hereinzufallen – was vermutlich damit zu tun hat, dass es ihnen noch schwerer fällt als jungen »Digital Natives«, Manipulationen im Netz als solche zu erkennen.
Im Kapitel über mögliche Gründe des Abdriftens nach rechts diskutieren die Autorinnen alles Mögliche: von Kontrollverlust, Einsamkeit und Unsicherheit im Alter über das Empty-Nest-Syndrom und eine Radikalisierung durch den Partner bis hin zu Altersstarrsinn und das Fehlen von Enkeln. Diese Liste von mehr als 20 Risikofaktoren wirkt so, als würde einfach alles aufgefahren, das nicht ganz unplausibel klingt.
Immerhin weisen Pohl und Wiedemann auch auf das Phänomen einer bloß vermeintlichen Radikalisierung hin: Wenn die gender- und diversitätssensible Studentin Opas Ansichten zu krass findet, bedeutet das eben nicht unbedingt, dass Opa abdriftet, sondern zeigt vielleicht nur, dass die Enkelin sich weltanschaulich anders orientiert hat.
Gefährliche Alte?
Unerwähnt bleiben die beiden dominierenden Persönlichkeitsveränderungen im Alter: Mit dem Renteneintritt sinkt die Gewissenhaftigkeit, und insbesondere im höheren Alter wächst die Ängstlichkeit. Ersteres kann zu geringerer sozialer Anpassung führen – sprich: Senioren scheuen sich weniger, mit ihren Ansichten vom Leder zu ziehen. Vermehrte Ängstlichkeit wiederum ist nachvollziehbar, denn Ältere sind sowohl körperlich als auch geistig mehr Gefahren ausgesetzt. Dass dies bei einigen das Verschwörungsdenken und die Fake-News-Gläubigkeit fördert, ist wohl richtig.
Allerdings sind Aktivismus und staatsgefährdende Umtriebe nach wie vor eine Domäne der Jugend. Ältere bringen dafür meist nicht mehr die nötige Energie auf. Und dass Senioren bei Wahlen ihr Kreuzchen vermehrt am rechten Rand machen, haben sie, wie die letzte Bundestagswahl zeigte, inzwischen mit Erstwählern und U-30ern gemeinsam.
Die Autorinnen erliegen zwei Irrtümern: Erstens gibt es keine »Generation 50+« – denn dann gehörten der 52-jährige Familienvater und seine, sagen wir, 75-jährige Mutter derselben Generation an – ganz zu schweigen vom Großvater mit seinen womöglich 95 Lenzen! Es kann sich also nur um generelle Alters-, nicht um Generationeneffekte handeln.
Zweitens krankt das hoch gelobte Präventionsbemühen daran, was im Englischen »preaching to the choir« genannt wird. Beraten werden besorgte Angehörige, Kinder, Freunde – jedoch kaum die eigentliche Zielgruppe. Denn die denkt in der Regel nicht daran, sich empathisch verpackte Ratschläge abzuholen. Dass es angesichts der Dichte an Volkshochschulen, Akademien für Ältere und Zentralstellen für politische Bildung nicht genügend seniorengerechte Angebote zur weltanschaulichen De-Eskalierung gäbe, erscheint ebenso fragwürdig.
So liest sich das Buch eher wie eine Imagebroschüre in eigener Sache: Nachdem die Klientel der Jugendlichen und jungen Erwachsenen hinreichend durchdrungen ist, wird Nachholbedarf bei den Älteren ausgemacht – immerhin stellt diese Gruppe zukünftig das Gros der Bevölkerung. Die große Frage bleibt, ob die gut gemeinte Prävention hier viel bringt. Die Autorinnen plädieren dafür, hart in der Sache, aber weich auf der Beziehungsebene zu sein. Doch ein verständnisvolles Umfeld mag die Konfrontation mildern, ein Umdenken bewirkt es hingegen nur selten.
Probieren Sie es vielleicht selbst einmal aus: Geben Sie Ihrer querdenkenden Tante oder dem von Trump schwärmenden Großvater bei einem Kännchen Kaffee und Schwarzwälder-Kirsch-Torte viel Raum für die eigene Meinung! Bemühen Sie sich, verständnisvoll zu sein, urteilen Sie Ihr Gegenüber nicht ab – bleiben Sie aber hart in der Sache. Viel Erfolg!
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