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Fragwürdige Heilsversprechen

Der Vagusnerv ist komplexer als in diesem Buch suggeriert.

Langsamer essen oder beim Zähneputzen den Würgereflex auslösen, bis die Tränen kommen: Laut Chiropraktiker Navaz Habib stimulieren beide Maßnahmen den größten Nerv unseres parasympathischen Systems, den Vagus. »Umherschweifend, unbeständig« bedeutet dessen Name übersetzt. Den verdankt er den vielen Zweigen, die von und zu diversen inneren Organen verlaufen. Das Vorwort des Buchs kündigt »machtvolle Informationen« und einen »Schlüssel zu strahlender Gesundheit« an.

Der Vagus gehört zum autonomen Nervensystem. Dieses reguliert jene Körperfunktionen, die keiner bewussten Kontrolle bedürfen. Dabei gibt es Gegenspieler: Der Sympathikus ist für den Kampf-oder-Flucht-Modus verantwortlich; der Parasympathikus ist beim Ruhen und Verdauen aktiv. Entlang der Äste des Vagus lässt sich eine erstaunliche Reise durch den Körper unternehmen, die vom Hirnstamm aus etwa zum Herzen, Magen und Darm führt. Dieser widmet sich Habib im ersten Teil des Buchs.

Weit verzweigt und vielfältig

So weit verzweigt der Vagus, so vielfältig sind seine Aufgaben, wie im zweiten Teil deutlich wird. Im Ruhezustand senkt der zehnte Hirnnerv die Herzfrequenz, in der Magenschleimhaut bringt er spezialisierte Zellen dazu, Salzsäure auszuschütten, und im Darm sorgt er dafür, dass glatte Muskelzellen den Speisebrei vorwärts befördern. Entsprechend viel kann falsch laufen, wenn er nicht ausreichend aktiv ist. Ob das bei den Lesenden der Fall ist, sollen sie schließlich mit Habibs Anleitung herausfinden.

Der Autor selbst will seine Gesundheit durch Techniken, die den Vagusnerv anregen, drastisch verbessert haben. Am The Living Proof Institute in Kanada wolle er damit nun auch anderen helfen. Die Wurzel des jeweiligen Übels soll mit drei bis vier Standardtests erkannt und unter anderem mit Nahrungsergänzungsmitteln aus dem eigenen Haus therapiert werden. Das Vereinfachen scheint dort ebenso Grundsatz zu sein wie im Buch. Der Gründer des Instituts und Habibs Mentor, Sachin Patel, schreibt im Vorwort: »Die Vorstellung, dass wir uns der Komplexität des Körpers anpassen müssen, um ihn zu heilen, ist nicht nur falsch, sondern unrealistisch.«

Grundsätzlich lobenswert ist der Ansatz, Menschen in ihrer Selbstwirksamkeitserwartung zu stärken. Und der Chiropraktiker zeigt einige Stellschrauben auf, mittels derer man das autonome Nervensystem beeinflussen kann, etwa durch Ernährung, Bewegung, soziale Kontakte oder Atemtechniken. Zudem verweist er auf Therapieoptionen für Patienten mit schweren neurologischen Erkrankungen wie Epilepsie oder Clusterkopfschmerz, bei denen der Vagus mit Stromimpulsen stimuliert wird. Er schlägt aber auch vor, sich vor dem Zubettgehen den Mund mit einem Pflaster zu verschließen, um nicht ungesunderweise durch diesen atmen zu können.

Ist es überhaupt sinnvoll, den Vagus ständig zu aktivieren? Der Schlüsselbegriff im Buch hierzu ist der »Vagotonus«. Er beschreibt den Anteil der parasympathischen Aktivität an der des autonomen Nervensystems insgesamt. Zwei Beispiele sollen aufzeigen, was Habib unerwähnt lässt: Es kommt auf ein gesundes Gleichgewicht zwischen sympathischer und parasympathischer Erregung an. Ein erhöhter Vagotonus kann etwa die Herzfrequenz unter einen gesunden Wert absenken; man nennt dies Bradykardie. Eine Notfallversorgung ist dann unerlässlich. Außerdem erkranken Menschen, bei denen ein zum Magen ziehender Vagusast durchtrennt wurde, seltener an Parkinson. Die Operation führen Mediziner manchmal durch, wenn bestimmte Zellen in der Magenschleimhaut so viel Salzsäure produzieren, dass gefährliche Geschwüre entstehen.

Bei Parkinson ist zudem ein bestimmtes Eiweiß fehlgefaltet. Es ist bekannt, dass dieses über den Vagus entweder aus dem Darm ins Gehirn gelangt oder umgekehrt. Kurzum: So einfach ist das mit dem Vagus nicht! Schon Habibs schwammige Rhetorik wie der wiederholte Pleonasmus »die überwiegende Mehrheit von Menschen« sollte zum Hinterfragen anregen.

Schließlich liest sich das Buch nicht gut. Es enthält lange, gedanklich nicht untergliederte Sätze, Rechtschreibfehler und diverse zusätzliche Erklärungen, die die Übersetzerin zu Recht als notwendig befand und in Klammern als »Anm. d. Übers.« ergänzte.

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