»Alfred Wegener«: Und der Boden unter uns bewegt sich doch
In der langen Wissenschaftsgeschichte gab es immer wieder Erkenntnisse, die den Charakter einer Revolution hatten. So begründete Nikolaus Kopernikus einst das heliozentrische Weltbild, Charles Darwin zeigte, dass der Mensch ein Produkt der Evolution ist, und Sigmund Freud postulierte, dass unsere frühkindliche Entwicklung die Freiheit unseres Willens einschränkt. Und dann gab es da Alfred Wegener. Er hielt am 6. Januar 1912 in Frankfurt am Main als Gast der Geologischen Vereinigung einen legendären Vortrag. Darin führte er kühn aus, dass der Boden unter unseren Füßen nicht sicher sei. Er war überzeugt: Die Erde bewegt sich, Kontinente wandern im Laufe von Jahrmillionen hin und her, türmen dabei Berge auf, spalten sich ab und lassen Meere entstehen. Es war die Geburtsstunde der Plattentektonik als Gegenstand der Wissenschaft.
Diesen Vortrag zu halten – dazu gehörte ein hohes Maß an Selbstsicherheit, vielleicht sogar eine Portion Selbstüberschätzung. Das schreibt Günther Wessel in seiner Biografie des wohl berühmtesten deutschen Polarforschers und Pioniers der Geowissenschaften. »Hochverehrte Professoren« zu begrüßen – und dann etwas darzulegen, was selbige auf keinen Fall hören wollten, erforderte in der damaligen Zeit zudem einigen Mut.
Doch liest man Günther Wessels Charakterisierung Wegeners, so verwundert es nicht, dass dieser trotz tumultartiger Szenen während des wohl wichtigsten Vortrages seiner Karriere die durch akribische Forschung gewonnenen Erkenntnisse unbeirrt weiter darlegte. Denn Wessel zeigt: Hier war ein Mann am Werk, der seit Beginn seines Forscherlebens hartnäckig, wissbegierig und unbeirrbar war. Seine Leidenschaft waren die Geowissenschaften, und der Drang zur Erkundung unbekannter Regionen, vor allem auch der Polargebiete, ließ ihn immer wieder auch körperliche Höchstleistungen vollbringen.
Mitte des 19. Jahrhunderts war die Grenze zwischen reiner Entdeckerlust und Wissenschaft eher fließend, die ernst zu nehmende Polarforschung steckte noch in den Kinderschuhen. Selbst rund 50 Jahre später, als Alfred Wegener die akademische Bühne betrat, wurden Expeditionen in die Polarregionen eher als imperiale Herausforderung gesehen und zum Zweck kolonialer Besitznahme durchgeführt. Wissenschaftliche Erkenntnisse waren bestenfalls Beiwerk, das eben auch erledigt werden musste, wenn man für eine kostspielige Fahrt ins Eis eine Finanzierung bekommen wollte. Doch mit Alfred Wegener und seiner Arbeit sollte sich das langsam ändern, grundlegende geowissenschaftliche Forschung gewann immer mehr an Bedeutung.
Biografie und Zeitgeschichte
Spannend beschreibt Günther Wessel die Entwicklung der Polarforschung und bettet sie in ihren historischen Kontext ein, in dem Alfred Wegener eine wichtige Rolle spielte. Der Autor erzählt von den sozialen Umständen, unter denen Abenteurer und Wissbegierige damals in die Polarregionen aufbrachen, und von den Hindernissen, die sie schon im Vorfeld zu überwinden hatten. So ist sein Buch zwar in erster Linie eine kurzweilige und stringent erzählte Biografie, bietet aber eben auch eine lesenswerte Darstellung der Entwicklung des akademischen Lebens in Deutschland während des Ersten Weltkriegs und in den Jahren danach.
Wessels Erzählungen münden schließlich in eine ausführliche Schilderung der legendären Grönlandreise Alfred Wegeners in den Jahren 1930/31. Damals durfte man Grönland nicht ohne Genehmigung der dänischen Regierung betreten – und überraschenderweise bekam Wegeners Truppe eine Erlaubnis. Aus wissenschaftlicher Sicht verlief das Vorhaben äußerst erfolgreich und ging als »Deutsche Grönlandexpedition« in die Geschichte der Polarforschung ein.
Tragisch verlief die Expedition allerdings für Wegener selbst. Er fand während eines Gewaltmarsches auf dem Grönlandeis bei Temperaturen um minus 40 Grad Celsius am 16. November 1930 den Tod. Der Ort dieser Tragödie ist trotz seiner Abgelegenheit erstaunlich gut dokumentiert. Am Ende des Buchs finden sich in einem kleinen Bildteil auch einige Abbildungen, darunter auf der letzten Seite das Bild von Wegeners Grab. Das Foto mutet durchaus etwas bizarr an: Sein Kollege Ernst Sorge hatte Wegeners letzte Ruhestätte sorgfältig errichtet – wie auf einem Friedhof mit zwei Kreuzen und akribischer Umrandung. Mitten im weißen Nirgendwo.
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