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Buchkritik zu »Alles Zufall«

Der Libellenflügel ist ein unübertroffenes Meisterwerk der Natur. Kein anderes Tier vollführt mit so wenig Material- und Energieaufwand so vielseitige, komplizierte und elegante Flugmanöver. Gleichwohl sind es nicht die Libellen, sondern die evolutionär viel jüngeren Fliegen und deren Verwandte, die mit einem weit einfacheren und weniger effizienten Flugapparat den bodennahen Luftraum beherrschen.

Der amerikanische Psychologe David Rosenhan schickte 1968 gesunde Freiwillige in psychiatrische Kliniken mit dem einzigen – erdichteten – Symptom, sie hätten unerklärliche Stimmen gehört. Daraufhin interpretierte das Klinikpersonal jede, auch die normalste Äußerung der Pseudopatienten als Anzeichen von Schizophrenie. Das Verhalten der Eltern hat keinen nennenswerten Einfluss auf die Neigungen und der von ihnen erzogenen Kinder.

Alles Zufall? Na ja. Stefan Klein hat als Wissenschaftsredakteur des "Spiegel" jahrelang an einer äußerst ergiebigen Quelle für erstaunliche und verstörende Geschichten gesessen. Sein Buch präsentiert eine gelungene Auswahl; da quillt die Fülle der Themen gelegentlich über das Korsett des Buchtitels hinaus. Mich hat das nicht ernsthaft gestört. Da in der Tat alles in unserem Leben vom Zufall bestimmt wird, hat der Autor eine wohlfeile Ausrede, über alles in unserem Leben zu schreiben. Und von dieser Freiheit macht er durchaus wohldosierten Gebrauch.

Wahrhaft ein unglaublicher Zufall ist es, wie der Taxifahrer Barry Bagshaw nach mehr als dreißig Jahren seinen verlorenen Sohn wiederfindet – als ganz gewöhnlichen Fahrgast. Zwei Menschen, die miteinander nichts zu tun haben, entkommen knapp dem Terroranschlag vom 11. September, nur um zwei Monate später beim Absturz eines Flugzeugs nach Santo Domingo kurz nach dem Start ums Leben zu kommen. Für die Betroffenen und deren Hinterbliebene ist ein solches Zusammentreff en derart aufwühlend, dass Gedanken an eine – gütige oder grausame – Vorsehung sich aufdrängen. Aber dem Journalisten, der Zugang zu Nachrichten aus aller Welt hat, zeigt ein einfaches Rechenexempel, dass eine so unglaubliche Geschichte wie die von Vater und Sohn Bagshaw irgendwo auf der Welt so gut wie sicher passieren wird. Der Hauptgewinn, Ereignis des Lebens für den Lottospieler, ist für die Lottogesellschaft Standard.

Um den Zufall richtig einschätzen zu können, muss man also Klarheit über die Grundgesamtheit gewinnen, aus der das aktuelle Ereignis eine Stichprobe ist – oder zumindest so gesehen werden kann. Der Mensch aber, stets auf der Suche nach berechenbaren und sinnvollen Mustern, neigt dazu, den Einfluss des Zufalls zu unterschätzen. So passen auf einmal der Irrtum der Klinikpsychiater und die bei Eltern systematisch auftretende Überschätzung der eigenen Erziehungsleistung zum Thema. Unbestreitbar spielt der Zufall in der Entwicklung der Arten ebenso eine entscheidende Rolle wie in zahlreichen physikalischen Phänomenen. Meistens spricht man dann über ihn, wenn kleine, zufällige Änderungen große Wirkungen haben. Aber das kommt deutlich seltener vor, als man noch vor zwanzig Jahren in der Begeisterung über die Chaostheorie und den Schmetterlingseffekt glaubte.

Aus einer detaillierten Analyse des Bergbahnunglücks von Kaprun am 11. November 2000 und anderer Katastrophen destilliert Stefan Klein einen Satz beherzigenswerter Lebensregeln: Sperre den Zufall nicht mit Gewalt aus, vor allem nicht aus deinen Gedanken, sondern versuche seine guten und seine schlechten Folgen in eine erträgliche Mischung zu bringen. Unter Unsicherheit triff statt einer großen Entscheidung lieber viele kleine; dadurch hast du mehr Chancen, auf die unvermeidlichen Zufallsereignisse zu reagieren. Eine bunte Mischung guter Geschichten wird durch den erstklassigen Schreibstil des Autors zum Genuss.
  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 6/2005

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