»Allzumenschliches«: Wenn Hobbes weint und Kant singt
Der Philosoph Kierkegaard steht mit wehenden Frackschößen auf einem steilen Felsgrat und schaut durch den Nebel in die Ferne. »Schreib«, sagt er der Frau, die zu seinen Füßen kauert. »Schaut das Auge in einen Abgrund, wird einem schwindelig … was vom Auge wie vom Abgrund herrührt, denn man hätte auch nicht hinschauen können«. Den trockenen Rat der Frau – »Geh nicht so nah ran« – hört er eher nicht. Als er dann davon spricht, dass Angst eine weibliche Schwäche sei, in der die Freiheit ohnmächtig werde, stürzt er in den Abgrund. Die Frau blickt ihm nach, der Nebel hat sich gelichtet, und sie geht in klarer Luft, selbst nachdenkend und froh von dannen. In der Gedankenblase über ihr steht: »Endlich frei«.
Ob Freud, Platon, Nietzsche oder Kant: Die Zeichnerin Catherine Meurisse widmet den berühmten Philosophen jeweils zwei aufwendig gestaltete Seiten. Meist ist es eine moderne junge Frau, die nachfragt, die wissen und verstehen will, wenn sie die jeweilige Philosophie auf den Punkt bringt oder deren Widersprüche aufdeckt. Meurisse stellt mehr als 40 Denker vor, darunter auch weniger bekannte wie Alexis de Tocqueville, der bereits im 19. Jahrhundert die Entstehung eines beunruhigenden demokratischen Despotismus in Amerika erkannte, oder Edmund Husserl, der als Erfinder der Phänomenologie gilt. Auch drei Frauen haben es in diese Graphic Novel geschafft: Hannah Arendt, Simone Weil und Simone de Beauvoir.
Catherine Meurisse ist eine der bekanntesten französischen Karikaturisten. Sie wurde als erste Comic-Künstlerin Mitglied der renommierten Académie des Beaux-Arts und war die erste Frau überhaupt in der Sektion »Malerei« dieser Gelehrtengesellschaft. Bis 2016 war sie die einzige Zeichnerin bei der Satirezeitschrift »Charlie Hebdo«. Den islamistischen Terroranschlag auf die Redaktion am 7. Januar 2015 überlebte sie nur, weil sie an diesem Tag zufällig zu spät zur Arbeit kam. Zwei Jahre später erschien ihre Graphic Novel »Die Leichtigkeit«, die ihren Umgang mit dieser Katastrophe schildert. Sie ist ein Meisterwerk, eine Hommage an die heilende Kraft der Kunst, die traumatisierten Menschen zumindest etwas von ihrer scheinbar für immer verlorenen Leichtigkeit zurückgeben kann.
Fröhliche Respektlosigkeit
Auch »Allzumenschliches« versprüht diese Leichtigkeit. In ihren Texten und leicht skizzierten farbigen Federzeichnungen begegnet Meurisse den Geistesgrößen mit einer fröhlichen Respektlosigkeit. Voltaire, Rousseau und all die anderen kommen oft nicht besonders gut dabei weg. Wenn die Philosophen ihrer Ansicht nach allzu hochtrabend daherreden, zeigt Meurisse das.
Der Titel der Graphic Novel ist eine Anspielung auf einen Buchtitel von Nietzsche, von dem die junge Frau im Cartoon sagt, es sei »echt harte Arbeit«, ihn zu verstehen. Seine jämmerlichen Aussagen zu Frauen wie »Das Weib ist nicht der Freundschaft fähig« kommentiert sie etwas genervt mit einem »#OMG«. Die Mutter von Freud nimmt auf seiner Therapieliege die Gedanken ihres berühmten Sohnes über die weibliche Vulva auseinander und sagt: »Was hast du dir da alles eingebildet«. Und ja, Meurisse führt die oft misogyne Einstellung der großen Denker deutlich vor.
Aber sie zeigt auch »Allzumenschliches« im positiven Sinne – wie einen weinenden Thomas Hobbes, der von einem Wolf getröstet werden muss, weil die Menschen sich, anstatt auf seine Warnung zu hören (»Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen«), die Köpfe einschlagen; oder Karl Marx, der niedergeschlagen ist, weil er sein Buch wegen eines Druckereistreiks nicht veröffentlichen kann. Don Juan schickt die Autorin kurzerhand in Frührente, weil er bei den Frauen nicht mehr ankommt. Bei Kierkegaard wehen auf dem Gipfel die Frackschöße davon, so dass seine rot-weiß gepunktete Unterhose zu sehen ist. Und der bienenfleißige Kant singt sogar noch abends in der Karaokebar von seiner Arbeit. Meurisse erfüllt dabei erstklassig die Aufgabe einer Karikaturistin: berühmte und mächtige Personen von ihrem Sockel zu stoßen. Ganz nebenbei räumt sie dabei auch Hemmungen aus dem Weg, sich mit philosophischen Gedanken zu beschäftigen. Sie motiviert dazu, den großen Denkern auf die Finger zu schauen und eine eigene Sichtweise zu entwickeln; und dies nicht vor Ehrfurcht erstarrend, sondern mit großem Vergnügen.
Auf den letzten Seiten trifft die junge Frau die »Drei Affen – nichts sehen, nichts hören oder sagen«. Was diese Gesten bedeuten, ist umstritten. Die junge Frau interpretiert sie auf ihre eigene Weise, entledigt sich ihrer Kopfhörer, ihres Smartphones und ihrer modischen Kleidung. Unbeschwert und mit Leichtigkeit geht sie davon. Ihr Gedanke am Ende des Buchs: »Fühlt sich gut an, endlich weise zu sein …«.
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