Wider den Wald!
Die künstliche Schaffung von Artenschutzgebieten ("Wildlife Engineering") sei notwendig, um den derzeitigen Artenschwund aufzuhalten, ist der Genetiker Werner Kunz überzeugt. Dies habe auf Flächen zu geschehen, die von menschlicher Nutzung vollständig auszuschließen seien ("Land Sparing"). Als engagierter Hobbyornithologe beobachtet Kunz seit Jahrzehnten mit wachsender Besorgnis, wie sich der Vogel- und Insektenbestand in Deutschland entwickelt und wie die Naturschutzverbände darüber diskutieren. Über die Jahre hat sich viel Frust bei ihm angestaut.
Der Ärger des Autors und seine Ungeduld angesichts einbrechender Tierbestände sind nachvollziehbar. Man fragt sich, wieso Populationen in solch alarmierendem Ausmaß schrumpfen – und das in Mitteleuropa, wo die Bemühungen um Umwelt und Natur, akzeptiert von weiten Teilen der Gesellschaft, so groß sind wie nie zuvor. Was braucht es denn noch, um die Artenvielfalt zu erhalten?
Des Deutschen heiliger Tann
Laut Kunz muss man zunächst ein großes Missverständnis ausräumen, nämlich, dass Umwelt- und Naturschutz zugleich Artenschutz bedeuten. Der Autor prangert an, in Deutschland existiere eine ideologisierte Vorstellung von Natur – "Mythos Wald" –, an der sich die Schutzbemühungen orientierten. Dies habe dazu geführt, dass der Prozessschutz, also das Sicherstellen einer ungestörten Biotopentwicklung bis zum Erreichen des Klimaxzustands Wald, Priorität vor dem Artenschutz besitze. Dabei gebe es ganz klare Hinweise, dass es sich bei den aktuell gefährdeten Arten vor allem um Wärme liebende Bewohner offener und gestörter Flächen der Kulturlandschaft handle. Diese Spezies seien vor Jahrhunderten von Norden, Süden und Osten in die waldarme und steppenähnliche "Nutzlandschaft" Mitteleuropas eingewandert.
Klimatisch bedingt ist Deutschland allerdings ein Waldland. Wird eine Fläche stillgelegt, verbuscht sie nach kurzer Zeit. Da mittlerweile überall Stickstoff im Übermaß vorhanden ist – der Kunstdünger lässt grüßen –, wird die Vegetation allgemein dichter. Nährstoffarme, schütter bewachsene und sich im Sonnenschein stark aufheizende Flächen, die Offenland-Spezialisten zum Überleben benötigen, sind aus dem Landschaftsbild nahezu verschwunden. Der Wald ist fast überall auf dem Vormarsch, "Deutschland wächst zu", wie Kunz es drastisch formuliert.
Die stark gefährdeten Offenland-Bewohner konnten sich zuletzt noch an Extremstandorten behaupten, etwa in Kies- und Kohlegruben, auf Truppenübungsplätzen, Rieselfeldern und Flugplätzen. Diese erweisen sich auf Grund ihrer Strukturvielfalt zugleich als Standorte größter Artenvielfalt. Aus diesen Beobachtungen solle man lernen, fordert Kunz. Schutzmaßnahmen zum Erhalt der Biodiversität müssten sich heute gegen die Natur mit ihrem Verwaldungsbestreben richten, und zwar mittels massiven Großmaschineneinsatzes. Während man in England und in den Niederlanden bereits pragmatisch an die Sache herangehe, sei dieser notwendige Paradigmenwechsel mit den Naturschutzverbänden in Deutschland nicht zu machen, beklagt der Autor.
Zu dick aufgetragen
Leider fällt es schwer, diesen durchaus wichtigen Diskussionsbeitrag zu würdigen. Über weite Strecken ist das Sachbuch unangenehm polemisch. Ausgeprägte Redundanz und mangelnde Stringenz erschweren das Lesen zudem deutlich mehr als nötig. Darunter leidet das Werk stark, obwohl der Autor sein Anliegen in den Kontext an sich interessanter Themen stellt: Was unterscheidet Umwelt-, Natur-, Arten-, Tier- und Verbraucherschutz? Was sagen Rote Listen aus? Wie verlief die Waldentwicklung in Mitteleuropa in den zurückliegenden Jahrtausenden? Was ist überhaupt eine Art? Was hat es mit dem globalen Artensterben auf sich?
Bis zum Überdruss beschimpft Kunz die Naturschutzverbände für deren "Verbohrtheit" und die Deutschen für ihren Sauberkeitswahn, ihre Verklärung des Waldes und ihre Vorliebe für Verordnungen. Hier hätte unbedingt ein Lektor eingreifen müssen. Redaktionell bearbeitet und auf vielleicht ein Viertel des Umfangs gekürzt (und entsprechend verbilligt), hätte das Buch tatsächlich, wie angepriesen, seinen Platz im Bücherregal jedes Naturschützers verdient gehabt.
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