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»Astronomen, Akten und Affären«: Wissenschaftsgeschichte aus erster Hand

Ausgesprochen kenntnisreich und in weiten Teilen aus erster Hand berichtet Günther Rüdiger von den Anfängen der Astrophysik und ihrem Schicksal in zwei Diktaturen.

Das Buch beginnt mit der berechtigten Frage, wie die Sonnenforschung nach Preußen kam. Denn die Gründung des Astrophysikalischen Observatoriums Potsdam (AOP) vor mittlerweile etwa 150 Jahren hatte viel mit der Sonne zu tun. Schließlich war der bekannte Sonnenbeobachter Gustav Spörer, nach dem das eigentlich von Carrington stammende Gesetz der Fleckenwanderung benannt ist, einer der ersten Männer auf dem Telegraphenberg. Hier sollte im Jahr 1874 unter dem Einfluss Wilhelm Foersters das neue Observatorium entstehen und der Sonne als zentralem Beobachtungsobjekt der Astrophysik gewidmet sein. Schon bald aber setzte sich der zweite Mann am Observatorium, der Spektralanalytiker Hermann Carl Vogel, als alleiniger Direktor des AOP durch, verwies Spörer auf die Position des Ersten Observators und stellte damit die Sonnenphysik aufs Abstellgleis.

Die vom Autor Günther Rüdiger als Buchtitel formulierte Alliteration »Astronomen, Akten und Affären« bekam hier wohl ihre erste veritable »Affäre« – der noch zahlreiche weitere folgen sollten. Als Professor für Astrophysik und langjähriger Insider weiß Rüdiger über die Geschichte und Geschicke des AOP wie wohl kein Zweiter Bescheid. Er forschte zunächst in Jena an Steenbecks Institut für Magnetohydrodynamik über solare Dynamotheorie und machte dann Karriere am AOP im Forschungsbereich »Kosmische Magnetfelder«. Nach der Wende wurde er Leiter für den Bereich »Dynamo- und Akkretionstheorie« am (heute so bezeichneten) Leibniz-Institut für Astrophysik Potsdam. Der Autor ist auch weiterhin wissenschaftlich tätig, wie seine zahlreichen Veröffentlichungen in Fachzeitschriften belegen.

Das Buch ist in zwei ungefähr gleich lange Abschnitte unterteilt: Während der erste Teil weitgehend als eine bis etwa in die 1960er Jahre reichende Dokumentation angelegt ist, enthält der zweite Abschnitt auch persönliche Erfahrungen und Erinnerungen des Autors. Im ersten Teil begegnet der Leser vielen weiteren prominenten Namen wie Einstein, Freundlich, Grotrian, Hartmann, Hertzsprung, Kienle, von Klüber und Schwarzschild, die entscheidend an der Geschichte des AOP mitgeschrieben haben.

Zu dieser Geschichte gehören auch Pannen. Der im Jahr 1899 in Anwesenheit des Kaisers eingeweihte Große Doppelrefraktor erfüllte Vogels Erwartungen nicht, mit dem Teleskop die Radialgeschwindigkeit von Sternen genauer messen zu können. Aus Ärger über den Misserfolg kommt es zum Zerwürfnis mit seinem einstigen Lieblingsschüler Julius Scheiner (S. 45). Und an Erwin Freundlichs Einsteinturm ließ sich die gesuchte Rotverschiebung der Fraunhoferlinien auch nicht nachweisen (S. 63). Mit der Machtergreifung im Januar 1933 änderte sich die bis dahin fruchtbare Wissenschaftslandschaft schlagartig, und viele der besten Wissenschaftler verließen das Land, so auch der als »antinational denkender Judenabkömmling« denunzierte Erwin Freundlich, der von seinem Vorgesetzten Ludendorff in die »Wüste« geschickt wurde.

Wissenschaft und Diktatur

Zu den Irrungen und Wirrungen dieser unseligen Zeit hat der Autor akribisch recherchiert und dabei viele Quellen ausgewertet, die allein in diesem etwa hundert Seiten umfassenden ersten Teil durch fast 300 Fußnoten belegt sind. Dazu kommt üppiges Bildmaterial mit zum Teil einmaligen Fotos, die in solch komprimierter Zusammenschau wohl nirgendwo sonst anzutreffen sind. Über die Schwierigkeiten des Neuanfangs nach Kriegsende geht das Buch leider weitgehend hinweg, auch zeitliche Zusammenhänge verschiedener Ereignisse verschwimmen zuweilen in der Darstellung. Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 bedeutete eine erneute Zäsur für den Wissenschaftsbetrieb. Die politischen Verhältnisse in der DDR schreckten alle potenziellen Kandidaten ab, die Nachfolge des verstorbenen Walter Grotrian als Leiter des Observatoriums anzutreten (S. 243).

Der zweite Teil des Buchs behandelt die letzten Jahre des Astrophysikalischen Observatoriums, der Akademie der Wissenschaften und der DDR insgesamt, also eine Zeit, die Günther Rüdiger aktiv miterlebt und mitgestaltet hat und über die er sehr bewegend berichtet. Der Leser erhält einen authentischen Einblick in die Forschungslandschaft der DDR, wo häufig das Primat der Politik über die Wissenschaft regierte, über Professorentitel von der Parteileitung entschieden wurde, parteilose Mitarbeiter in wissenschaftlichen Instituten als Fehlbesetzungen galten und in fachlichen Publikationen unbedingt der Name »Lenin« vorkommen musste. Aber auch das Alltagsleben in der damaligen DDR sowie die Teilhabe an verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Aktivitäten kommen in der Darstellung nicht zu kurz. In zahlreichen Episoden schildert der Autor, wie erfolgreiche Forschungsarbeit trotz der vom System ausgehenden Widrigkeiten gelingen konnte, auch wenn es dazu einiger Tricks oder Regelverstöße bedurfte. Dies betraf natürlich auch Kontakte zum westlichen Ausland oder gar Dienstreisen dorthin, wie sie für den fachlichen Austausch unter Kollegen erforderlich gewesen wären.

Trotz all dieser Hindernisse leisteten die Potsdamer Wissenschaftler um die Astrophysiker Karl-Heinz Rädler und Fritz Krause auf dem Gebiet der Dynamotheorie kosmischer Magnetfelder wichtige Pionierarbeit und waren damit international hoch angesehen (siehe Sterne und Weltraum 6/2020, S. 20, oder 1/2025, S. 34). Für den physikalisch ambitionierten Leser finden sich im Buch auch Stellen, an denen verschiedene theoretische Ansätze zur Magnetohydrodynamik von Sternen diskutiert werden (beispielsweise S. 138–143 und S. 167).

Mit dem Kapitel »Aufbruch 89« wird die Wende eingeläutet. Schon Jahre zuvor war das Astrophysikalische Observatorium auf dem Telegraphenberg nur mehr Geschichte, und die Dynamogruppe zog nach Babelsberg um. Nach dem Mauerfall wurde auch das Zentralinstitut für Astrophysik, zu dem das AOP gehörte, im Sinne des Einigungsvertrags zum Ende des Jahres 1991 aufgelöst. Das Buch endet mit der Neugründung des Astrophysikalischen Instituts Potsdam (AIP), dem heutigen Leibniz-Institut für Astrophysik Potsdam. Das Werk ist mit einem ausführlichen Literatur- und Personenverzeichnis ausgestattet und enthält einen Anhang mit aufschlussreichen Dokumenten, die teilweise als Originalkopien wiedergegeben sind. Leider fehlt ein Sachverzeichnis.

Warum finde ich das Buch wichtig? Weil es unter anderem am Beispiel eines anerkannten Forschungsinstituts die Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, aber auch die Verwerfungen einer Gesellschaft aufzeigt, die zuerst dem Terror der Naziherrschaft und dann den Restriktionen der DDR-Diktatur ausgesetzt war. Und weil der Leser hier aus erster Hand mit den Anfängen der Astrophysik und ihren Protagonisten bekannt gemacht wird. Und nicht zuletzt natürlich auch, weil es hier sehr fundiert um die Dynamotheorie kosmischer Magnetfelder geht. Mein Fazit: sehr empfehlenswert!

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