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»Atomare Demokratie«: Ausgelebter Atomdissens

Frank Uekötter sieht die Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik als einmalige Gelegenheit, das Leben mit unterschiedlichen Meinungen in einer Demokratie in seiner ganzen Komplexität zu studieren.
Kernkraft

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg setzte in Deutschland ein spannendes gesellschaftliches Experiment ein. Die Demokratie festigte sich in den Köpfen, die wirtschaftliche Entwicklung erfuhr einen Höhenflug nach dem anderen. Fast gleichzeitig tauchte eine neue Energietechnik auf: die Kernenergie. Seit ihrer Erfindung erhitzt sie die Gemüter der deutschen Gesellschaft. Sie kostete Gegner und Befürworter so manchen Nerv und prägte die Entwicklung der jungen Bundesrepublik über die ersten Jahrzehnte entscheidend mit. Als Teil der Geschichte ist sie im demokratischen Diskurs fest verankert.

Eine Energieform polarisiert die Gesellschaft

Die Geschichte des Konflikts ist eine gute Gelegenheit, um eine Demokratie in seiner ganzen Komplexität zu studieren, meint Frank Uekötter in seinem Buch »Atomare Demokratie«. Das »friedliche Atom« warf Grundfragen des demokratischen Zusammenlebens auf und tangierte alle Institutionen, auf denen die offene Gesellschaft beruht, so der Professor für geisteswissenschaftliche Umweltforschung an der University of Birmingham in England.

Uekötter erzählt die Geschichte der friedlichen Nutzung der Kernenergie mit dem Schwerpunkt auf Deutschland, bezieht aber immer wieder auch europäische Entwicklungen mit ein. Nach 1945 bauten die Siegermächte wie selbstverständlich ein Kernwaffenarsenal auf. Die friedliche Nutzung war damals noch kein Thema. Deutschland war es zwar auf Grund der Pariser Verträge von 1955 verboten, ein eigenständiges Atomprogramm zu verfolgen, jedoch war eine Beteiligung an einem multinationalen Programm nicht ausgeschlossen. Schon zwei Jahre später meldete sich Paris bei Konrad Adenauer, ob man nicht mit Italien zusammen an einer europäischen Atombombe arbeiten wolle.

Fast gleichzeitig erkannte man aber auch den Nutzen der Kernkraft für die Stromerzeugung. So ging 1954 im sowjetischen Obninsk das erste kommerzielle Kernkraftwerk ans Netz. Von da an gab es kein Halten mehr. Das nukleare Projekt rief Fantasien hervor. Kernkraft war grenzenlose Energie, sie war das Produkt eines goldenen Zeitalters und zugleich ein Versprechen, dass es nie enden würde. So zumindest sahen es die einen. Die anderen organisierten den massiven Widerstand gegen den Bau von Kernkraftwerken und brachten den auch – teilweise gewaltbereit – zum Ausdruck.

Ausführlich erzählt Uekötter von den Krisenjahren und schildert die Konfrontationen von Polizisten und Aktivsten überall dort, wo Kernkraftwerke gerade gebaut oder in Planung waren, wie in Brokdorf, Wackersdorf oder Grohnde. Bei all den robusten Aufeinandertreffen von Polizei und Kernkraftgegnern schien die Demokratie zumindest bei den meisten in den Köpfen verankert geblieben zu sein. Für die Mehrheit der Demonstranten war die Polizei nicht unbedingt der Feind, sondern eher die Politiker hinter den Entscheidungen. Zwar gingen dem ein oder anderen Ordnungshüter mal die Nerven durch, dennoch versuchte man die Regeln des Rechtstaates zu achten, schreibt Uekötter.

Schon in den 1980er Jahren verschwand die Kernkraft aus dem öffentlichen Interesse. Ernüchterung war eingetreten. Die Energieform war eigentlich nur in großen Maßstäben zur Stromerzeugung gut nutzbar. Die Frage der Endlagerung des nuklearen Abfalls geisterte in den Hinterköpfen herum – und ist bis heute ungelöst. Die Kraftwerke wurden immer älter und teurer im Betrieb. Keine guten Voraussetzungen für eine glorreiche Zukunft. Dazu kamen Katastrophen wie Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011. Letztere ebnete den Weg zum Ausstieg aus der Kernenergie. Der Entschluss wurde von einer parteiübergreifenden Mehrheit getragen und hatte deshalb eine besondere Qualität: Erstmals waren sich Kernenergiebefürworter und -gegner einig. Selbst auf europäischer Ebene, so glaubt Uekötter, werde die Kernenergie ohne massives Erneuerungsprogramm bald zur Nischentechnologie verkommen.

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine sorgt nun jedoch für eine neue Debatte über die Energieversorgung – und eine mögliche Verlängerung der Laufzeiten der letzten drei aktiven Kernkraftwerke. Vor diesem Hintergrund ist das Buch von Uekötter eine fundierte Lektüre, um sich einen Überblick über das Thema und ein breites Hintergrundwissen zur Geschichte der friedlich genutzten Kernenergie und ihrer damit verbundenen Konflikte in der Bundesrepublik zu verschaffen.

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