»Aufstieg und Fall der Menschheit«: Evolution und Weltraumfantasien
Klimawandel, Artensterben, Kriege und soziale Konflikte: Ohne Zweifel steht die Menschheit vor enormen Herausforderungen, die vielleicht sogar die Spezies als Ganze bedrohen könnten. Der Evolutionsbiologe Henry Gee analysiert in seinem Buch, wie aus einem affenähnlichen Wesen die heutige Menschheit mit all ihren Problemen entstanden ist. Und er postuliert, dass es unsere Art noch maximal 10 000 Jahre geben wird – sofern es ihr nicht gelingt, in den nächsten 200 Jahren das Weltall zu kolonisieren.
Wenig überraschend betrachtet Gee im ersten Teil des Buchs, dem »Aufstieg«, vor allem die Evolution des heutigen Menschen und anderer Arten. Außerdem folgt er archäologischen und genetischen Spuren. Es ist spannend zu lesen, wie viele unterschiedliche Mitglieder der Menschenfamilie (genauer der Hominini) einst als kleine Populationen in Afrika existiert haben, nur um später vom Homo sapiens verdrängt oder vernichtet zu werden. Der wiederum verließ mehrfach den afrikanischen Kontinent, bevor er schließlich die ganze Welt besiedelte. Der Autor rekonstruiert zudem, wie Klimawechsel, schwindendes Beutewild und Bevölkerungswachstum den Übergang vom Dasein als Jäger und Sammler hin zur Landwirtschaft als menschlicher Existenzgrundlage bedingten.
Dieser historische Teil ist sachkundig geschrieben, gut referenziert und zweifellos der unstrittigste des Buchs, wenn auch manchmal etwas redundant. Einige Gedanken sind überraschend, etwa die Antwort auf die Frage, weshalb der Mensch trotz der großen Artenvielfalt nur so wenige Tier- und Pflanzenarten domestiziert hat: »Tatsächlich verweigern sich die meisten Arten einer Domestikation. Zebras sind notorisch bösartig, Bisons lassen sich nicht einsperren und können aus dem Stand 1,80 Meter hohe Zäune überspringen. Eine Eiche wird so viel älter als ein Mensch, dass dieser Umstand eine gezielte Züchtung ausschließt.«
Im mittleren Teil des Buchs – »Fall« – beschreibt Gee, was die menschliche Art in die heutigen Krisen geführt hat. Auch hier finden sich viele interessante, gut dokumentierte historische Fakten. Ein Kernargument, das der Evolutionsbiologie immer wieder nutzt, ist der genetische Flaschenhals, durch den die Menschheit einst ging: Unsere genetische Vielfalt ist ungewöhnlich klein, weil wir mehrfach fast ausgestorben wären. Dieser beschränkte Genpool erschwert biologische Anpassungen an Umweltveränderungen und macht uns besonders anfällig für Krankheiten und Parasiten.
Fluch und Segen der Landwirtschaft
Als weiteres Übel identifiziert der Autor die industrielle Landwirtschaft. Einerseits ermöglichte sie das Bevölkerungswachstum – nicht zuletzt durch die Grüne Revolution im 20. Jahrhundert. Dieses Wachstum bewertet Gee zunächst positiv, denn aus seiner Sicht muss eine Bevölkerung zwingend groß sein, um hinreichend oft Genies und damit sprunghafte Entwicklungen hervorbringen zu können, durch die sich Krisen bewältigen lassen. Andererseits seien Landwirtschaft und eine große Bevölkerung problematisch, da sie Zoonosen – von Tieren auf Menschen übertragene Krankheiten – befördern, den Planeten überlasten und sogar die heutige wirtschaftliche Unsicherheit begründen: »Homo sapiens dominiert inzwischen die natürliche Ökonomie der Erde und hat ihr so viel Naturkapital entnommen, dass die ›leichte Beute‹ abgeerntet ist und neue Ressourcen rar sind.« Dann sind da noch die Klimakrise, die damit verbundene Migration und die Zivilisationskrankheiten, die der Autor mit dem »uralten Drang, uns vollzustopfen, wenn genug da ist«, erklärt – und, und, und.
Ein Haufen Probleme, die unbedingt gelöst werden müssten. Darum dreht sich Teil drei, »Ausweg«. Gee plädiert darin dafür, den Weltraum zu besiedeln und insbesondere Orbitalstationen einzurichten. So könnte die genetische Vielfalt wieder wachsen, weil sich eine expandierende Menschheit zwangsläufig an neue Umwelten anpassen müsste. Weil aber die Menschheit schon in diesem Jahrhundert wieder schrumpfen könnte – und damit ihre Kreativität und Produktivität –, müssten die nötigen Technologien in den nächsten 200 Jahren entwickelt werden, sonst könne die Menschheit die Kolonisierung des Weltraums nicht mehr schaffen und stürbe aus.
Manches an Gees Prämissen oder Schlussfolgerungen darf man kritisch sehen. Wären halb so viele Menschen auf dem Planeten wirklich zu wenige, um genug kluge Köpfe hervorzubringen, Probleme zu bewältigen und nachhaltig zu leben? Und würden autonome Raumstationen nicht durch Inzest eher für eine weitere genetische Verarmung sorgen und obendrein nach Gees Logik zu wenig Bewohner haben, um weitere Genies zur Krisenbewältigung hervorzubringen?
Die ersten beiden Abschnitte des Buchs sind ein lesenswerter Abriss der Menschheitsgeschichte und eine solide Herleitung vieler heutiger Herausforderungen. Wer darin wenig bewandert ist, findet hier eine gut geschriebene und solide recherchierte Zusammenfassung. Den dritten Abschnitt muss jedoch nur lesen, wer, wie der Autor selbst, ein Weltraumenthusiast ist – oder einen solchen kennenlernen möchte.
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