»Besser denken«: Eine »Rezeptsammlung« fürs Denken
90 Prozent der Deutschen beschäftigen sich während des Fernsehens zusätzlich mit ihrem Handy, und 1,8 Millionen Smartphones fallen jährlich allein in britische Toiletten. Das sind zwei der Beispiele, die Henning Beck anführt, um uns vor Augen zu führen, in welchem Ausmaß Internet, Social Media und KI heute unser Leben prägen. Anstatt, wie in den 2000er Jahren erhofft, vor allem Teilhabe und Mitbestimmung zu fördern, verstärke die Allgegenwart von Informationen auch die Schwächen unseres Denkens, schreibt der Neurowissenschaftler; durch Falschinformationen, die nur oft genug wiederholt werden müssten, damit wir sie für Tatsachen halten; durch Reizüberflutung, die unsere Aufmerksamkeit beeinträchtige; oder durch die ständige Aussicht auf eine wirklich befriedigende Belohnung, die dann doch nie kommt. So machten uns Internet und Social Media nicht glücklich, sondern zu ständig Hoffenden – und damit zu besseren Konsumenten, wie der Autor betont.
Auf gut 300 Seiten geht Beck der Frage nach, wie sich unser Denken an diese Umstände anpassen und angesichts von Entwicklungen wie der künstlichen Intelligenz behaupten kann. »Die Sorge, mit dem Tempo technologischer Entwicklung nicht mehr Schritt halten zu können, ist wahrscheinlich so alt wie der Fortschritt selbst«, schreibt er im Nachwort des Buchs. Bei dieser Sorge bleibt er jedoch nicht stehen. Zu jedem Problem, das er anspricht, bietet er Lösungsansätze oder formuliert die Fragestellung neu (›Reframing‹), damit wir auch mit unseren kognitiven Schwächen konstruktiv umgehen können. So entsteht eine »Rezeptsammlung« fürs Denken, wie der Autor selbst sein Buch charakterisiert.
Viele der beschriebenen Rezepte leuchten auf den ersten Blick ein. So rät Henning Beck etwa dazu zu priorisieren, anstatt Inhalte nur so zu wiederholen, wie sie einem gerade begegnen. Man solle positive Ablenkungen in das eigene Denken integrieren und nicht bloß auf negative Ablenkungen reagieren – etwa indem man, anstatt zusammenhangslos auf dem Smartphone herumzuscrollen, sich selbst Fragen stellt. Selbst zu fragen, ist laut Beck das wirksamste Werkzeug, um die Kontrolle über das eigene Denken zurückzuerlangen. Überraschend wird es jedoch, wenn der Autor – wissenschaftlich fundiert – die weit reichenden Konsequenzen solcher einfachen »Denkrezepte« aufzeigt; so zitiert er beispielsweise eine Studie, der zufolge sich die kognitiven Fähigkeiten von Menschen nach nur zwei Wochen Pause vom mobilen Internet drastisch verbessern können.
Wir neigen zur Selbstüberschätzung
Weniger intuitiv und ziemlich komplex wird es außerdem dort, wo Henning Beck die neurowissenschaftlichen Hintergründe unseres Denkens erläutert und zum Beispiel zeigt, welches Aktivierungsmuster Flow-Erlebnisse in unserem Gehirn auslösen. Faszinierend sind auch Becks Ausführungen dazu, wie irrational unser Denken oft funktioniere und wie wenig davon wir bewusst kontrollieren könnten. Das gestehen wir uns ungern ein, und auch sonst neigen wir dazu, unsere kognitiven Leistungen zu überschätzen – auch im Hinblick auf das Verständnis unseres eigenen Denkens. Zur Illustration seiner Erklärungen verweist Henning Beck oft auf bekannte Persönlichkeiten und Organisationen aus Wirtschaft und Politik. So nennt er etwa den Werdegang von YouTube als Beispiel für kognitive Anpassungsfähigkeit. Auch im Sport findet Beck Anschauungsmaterial und lässt dabei seine eigene Leidenschaft fürs Rennradfahren durchblicken.
Dies ist nicht die einzige persönliche Note, die im Buch durchscheint. Oft spricht er seine Leserinnen und Leser direkt an – etwa, indem er seine eigenen Denkschwächen offenbart oder ganz im Sinne seiner »Denkrezepte« zu Lesepausen und zum Reflektieren auffordert. Und am Beispiel der Bewertung seines eigenen Buchs illustriert er, dass Emotionen und Verstandesleistungen bei Entscheidungen nie klar voneinander zu trennen seien: »Auch wenn Sie dieses Buch lesen, werden Sie nicht sachlich oder quantitativ bestimmen können, wie gut es Ihnen gefallen hat.«
Die in diesem Sinne wohl nicht ganz sachliche Bewertung des Buchs lautet hier: Es fördert viele der Denkqualitäten, die es selbst als besonders wichtig für die heutige Zeit hervorhebt, etwa die »Metakognition« und die Bescheidenheit bei der Beurteilung des eigenen Wissens. Mitunter vermisst man allerdings eine gesellschaftskritische Perspektive auf unser Denken. Wenn es etwa heißt, dass nur wir selbst unser Denken »optimieren« könnten, begünstigt das vielleicht eine Perspektive, der, wird sie auf ›Selbstoptimierung‹ verengt, die soziale Dimension fehlt. Auch die Annahme, dass es seit Jahrtausenden die besseren Ideen seien, die unsere Geschichte prägten, erscheint zumindest gewagt – sind es doch oft die Mächtigeren, die sich auch mit höchst fragwürdigen Ideen durchsetzen.
Doch Kritikpunkte wie diese könnten Henning Beck durchaus willkommen sein. Ist doch das kreative und kritische Denken, das auf Hinterfragen und Widerspruch beruht, die Königsdisziplin von uns Menschen, wie der Autor im letzten Kapitel betont. Sie gelte es besonders zu fördern und sie sei es letztlich, die unsere von künstlicher Intelligenz unterscheide.
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