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Nur noch Erinnerung

Der Sachbildband "Bestiarium" präsentiert Tiere, die entweder bereits ausgestorben oder nahe daran sind. Ein hochwertig gestaltetes und interessant geschriebenes, aber deprimierendes Buch.

In allen meinen Bestimmungsbüchern zur Vogelwelt Europas ist der Dünnschnabel-Brachvogel als "sehr selten" beschrieben. Er gehört zur Ordnung der Limikolen oder Regenpfeiferartigen, deren Arten im Feld nur schwer taxonomisch einzuordnen sind. Spezielle Bestimmungswerke zeigen alle Alterskleider des Vogels, um diese Aufgabe zu erleichtern. Im vorliegenden Buch gilt er nun schon als ausgestorben. Die letzten glaubhaften Beobachtungsberichte stammen aus dem Jahr 2006 (in Deutschland aus dem Jahr 1966).

Das Beispiel verdeutlicht: Wir schauen heute bei einem Ereignis zu, das sich als "sechstes Massensterben" bezeichnen lässt. Die anderen fünf sind lange her, das letzte begann vor rund 65 Millionen Jahren, als ein kilometergroßer Meteorit dort niederging, wo sich heute der Golf von Mexiko befindet. Im Gegensatz allerdings zu diesen früheren Massensterben, die sich über Millionen Jahre hinzogen, geht das heutige unglaublich schnell. Allein 260 Wirbeltierarten – Säuger, Vögel, Amphibien, Reptilien und Fische – verschwanden in den zurückliegenden 100 Jahren. Das ist kein "natürliches Ereignis" mehr, sondern wir Menschen sind die Ursache: als hochgradig aggressive und invasive Spezies, die jeden bewohnbaren Quadratmeter besiedelt und mit landwirtschaftlichen Kulturen und Industrie überzieht.

Im vorliegenden Buch stellt Luc Semal, Lehrbeauftragter am Nationalen Museum für Naturgeschichte in Paris, 69 ausgestorbene Tierarten vor, überwiegend Vögel und Säuger. Bei vielen von ihnen beschreibt er die sorgfältig ermittelten Ursachen ihres Verschwindens. Manches dabei klingt nahezu unglaublich, ist aber leider wahr.

30.000 Abschüsse

In Nordamerika etwa sorgten Siedler seit der Mitte des 19. Jahrhunderts für das Ende der Wandertaube (Ectopistes migratorius). Zuvor hatte es Milliarden dieser Vögel gegeben, die in riesigen Kolonien nisteten und in Schwärmen durchs Land zogen, deren Größe sich heute niemand mehr ausmalen kann. Man fand Brutkolonien mit einer Fläche von fünf mal sechzehn Kilometern [!], in denen sich Nest an Nest reihte. Die Siedler betrieben das gnadenlose Abschlachten dieser Tiere als Jagdwettbewerb. Teilnehmer, die weniger als 30.000 Abschüsse vorweisen konnten, hatten keine Chance auf einen vorderen Platz. Wenn das massenhafte Töten vorüber war, kamen die Schweinemäster und trieben ihre Herden über die Strecke, damit die Schweine die Kadaver fressen konnten. Seit 1870 bemerkte man, dass die Vögel seltener wurden. 1914 starb "Martha", die letzte ihrer Art, im Zoo.

Dodo-Knochen | Knochen des gegen 1690 ausgestorbenen Dodo. Es gibt keinen überlebenden Artverwandten, DNA-Vergleiche zeigen aber große Übereinstimmungen mit der heutigen Kragentaube.

Ganz ähnlich ging es dem Eskimo-Brachvogel (Numenius borealis) in Westkanada und Alaska. Er trat ebenfalls in riesigen Schwärmen auf. Der kanadische Autor Fred Bodsworth machte ihn zum Helden seines Romans "The last of the Curlews", der die im Gehege durchgeführten Fortpflanzungsversuche zur Rettung der Art beschreibt: vergeblich. Auch dieser Vogel verschwand. Intensives Nachsuchen im Brutgebiet in Alaska und im Winterquartier in Argentinien blieb seit 1962 ohne jeden Erfolg.

Anders beim Kalifornischen Kondor (Gymnogyps californianus). 1981 gab es noch 22 Individuen dieser einst weit verbreiten Vogelart. Als Siedler nach Kalifornien kamen, legten sie vergiftete Köder gegen Kojoten aus und brachten den Kondor damit – quasi als Kollateralschaden – an den Rand des Aussterbens. 1987 hat man das letzte noch wild lebende Exemplar gefangen und mit der Zucht begonnen. Das Experiment glückte. 1992 wurden die ersten Jungtiere wieder ausgesetzt; bis heute hat sich der Bestand auf rund 400 Tiere erhöht.

Schwierige Einordnung

Bei alldem stellt sich die Frage, was unter "ausgestorben" zu verstehen sei. Eine keinesfalls triviale Frage, wie das Beispiel des Kondors zeigt. Längst nicht immer herrscht Gewissheit darüber, ob noch Exemplare in "freier Wildbahn" existieren oder nicht. Auch solche Probleme spricht Semal an. Dabei macht er deutlich: Ohne menschliche Hilfe gäbe es nicht nur den Kalifornischen Kondor nicht mehr!

Boninfinken | Die Boninfinken wurden nach 1828 nie wieder gesehen. Sie waren etwa 20 Zentimeter lang und einst endemisch auf der Insel Chichi-jima.

Der Autor unterteilt die 69 von ihm beschriebenen Arten in vier Gruppen. Zuerst beschreibt er Tiere, die zwar vor relativ kurzer Zeit noch die Erde besiedelten, aber von keinem bekannten Menschen je lebend gesehen wurden. Dazu gehören das Wollhaar-Mammut oder der Moa, ein Riesenstrauß; von ihnen gibt es nur noch Knochen. Als zweite Gruppe folgen Tiere, über die es überlieferte Augenzeugenberichte aus früheren Jahrhunderten gibt, beispielsweise von Forschungsreisenden oder Jägern. Blaubock, Riesenalk, Wandertaube oder Berberlöwe sind Beispiele für diese Kategorie. Sodann folgen Arten, deren Aussterben wir in den zurückliegenden Jahrzehnten "zugeschaut" haben, etwa der Eskimo-Brachvogel oder der Kaiserspecht (Campephilus imperialis). In der vierten Gruppe schließlich beschreibt Semal Fälle wie den Kalifornischen Kondor.

Jedem Tier ist eine Doppelseite gewidmet. Links steht ein immer sehr interessanter Text; häufig geht es darin um die Geschichte des Aussterbens der jeweiligen Art. Ergänzt wird er jeweils von einer historischen Abbildung, etwa aus Forschungsberichten. Kleine ungeschickte Formulierungen, etwa "im Speiballen eines Nachtgreifvogels" (statt "im Gewölle einer Eule"), gehen wohl zu Lasten der Übersetzung. Rechts befindet sich immer die ganzseitige Aufnahme eines Museumspräparats in exzellenter Qualität. Sehr oft wird auf diesen Fotos versucht, die Pose der historischen Abbildung nachzustellen. Alle fotografierten Präparate stammen aus der Sammlung des Naturalis Biodiversity Center Leiden in den Niederlanden.

Schattenseiten

Java-Tiger | Der Java-Tiger erreichte eine Länge von bis zu 2,50 Meter. Gegen 1979 oder kurz danach starb er aus.

"Bestiarium" überzeugt fast durchweg. Allerdings hat Fotograf Yannik Fourié nur eine einzige Lichtquelle eingesetzt – und zwar als sehr scharfes Streiflicht. Das wirft gelegentlich tiefe Schatten auf Teile des Objekts, worunter die Schönheit einiger Präparate leidet. Vor einiger Zeit erschien im Haupt-Verlag ein Gegenstück zu "Bestiarium", ein Buch namens "Das Herbarium der Entdecker", in dem getrocknete Pflanzen präsentiert werden (Rezension siehe hier) – dort sind die Fotos perfekt gelungen. Glossar, Register und Bibliographie runden das vorliegende Werk ab.

Die auf der Rückseite des Einbands artikulierte Hoffnung, "dass es vielleicht noch nicht zu spät ist, um ein weiteres Massensterben der Arten zu beenden..." teile ich nach der Lektüre dieses anspruchsvollen und aufwändig gestalteten, aber deprimierenden Buchs nicht.

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