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Radikal anders?

Warum der Autor Tim Parks die Neurowissenschaft missversteht

Es beginnt mit einem Erweckungserlebnis. Der britische Autor Tim Parks, der seit vielen Jahren in Italien lebt, erwacht in einem Hotelbett neben seiner Partnerin. Klänge, Schemen, Gerüche und Gedankenfetzen setzen sich allmählich zu einem wachen Bewusstsein zusammen, eben dem von Parks selbst. Auf so anschauliche Weise macht uns das Buch erzählerisch mit seinem Thema vertraut.

Bald darauf ist klar: Mit einem Stipendium des Deutsch-Amerikanischen Instituts (DAI) in Heidelberg will Parks die Frage »Ist Wissenschaft die neue Religion?« ergründen. Hierzu trifft er in der Universitätsstadt am Neckar drei Professoren – die Psychologin Sabina Pauen, den Philosophen und Psychiater Thomas Fuchs sowie die Neurobiologin Hannah Monyer. Parks kokettiert zwar damit, er sei den Experten fachlich hoffnungslos unterlegen und könne sich gar nicht gut ausdrücken. Das hinderte ihn aber offenbar nicht, seine Interviews zu einem fast 300-seitigen Plädoyer für die »Spread-Mind-Theorie« zu nutzen. So heißt ein von dem italienischen KI-Forscher Riccardo Manzotti entwickelter Ansatz, Bewusstsein zu erklären. Dieses sei, so Manzotti, weder im Gehirn noch zwischen Gehirnen angesiedelt, sondern in der Welt da draußen. Das Objekt unserer Wahrnehmung sei identisch mit dem Ort des bewussten Erlebens. Sprich: Der Apfel, den ich sehe, ist mein Bewusstsein (der Existenz des Apfels).

Bevor Parks diese höchst gewagte Theorie seines Freundes Manzotti erläutert, kritisiert er ausgiebig die Redeweise der Hirnforschung, gestützt auf die Lektüre von Büchern wie »Neurowissenschaft für Dummies« und Christof Kochs populäre Einführung »Bewusstsein – ein neurobiologisches Rätsel«. Zudem analysiert er verschiedene Fachaufsätze, in denen er Begriffe wie »Repräsentation«, »Engramm« oder »Feuern« von Neuronen aufs Korn nimmt. All diese Ausdrücke lehnt er ab, denn sie zeugten von der falschen Idee des Homunkulus (lateinisch für Männlein) – jenes inneren Agenten, den es nicht gibt.

Der Philosoph Thomas Nagel brachte den dahinterstehenden Fehlschluss einmal so auf den Punkt: Könnte man am Hirn eines Menschen lecken, der gerade ein Stück Schokolade genießt, würde es dort nirgends nach Schokolade schmecken. Ebenso wenig gibt es Bilder im Kopf, erklärt Parks, und niemand bedient sich seiner grauen Zellen als Werkzeug. So weit, so richtig. Parks' Sprachkritik gerät jedoch zur Wortklauberei, da Sprache oft einfach nicht wortwörtlich zu verstehen ist, sondern mit Analogien und Metaphern arbeitet. Solange klar ist, dass mit »Feuern« Aktionspotenziale gemeint sind und mit »Informationsverarbeitung« das Modulieren von Spike-Frequenzen und vieles andere mehr – halb so wild, könnte man meinen.

Parks aber setzt eine bestimmte Art zu reden mit »der Neurowissenschaft« gleich. Dabei erliegt er einem Missverständnis: So wie Fußballreporter oder Funktionäre nicht selbst Tore schießen, ist auch die Popularisierung der Hirnforschung nicht selbst Wissenschaft. Viele öffentlich geäußerte Vereinfachungen, Übertreibungen und forsche Objektivitätsansprüche kann und muss man hinterfragen – Parks sieht in ihnen freilich etwas, was sie nicht sind.

In Sachen Bewusstsein unterscheidet er das »internalistische« Standardmodell (Bewusstsein entsteht und sitzt im Gehirn) von »enaktivistischen« Positionen, wie sie unter anderem der Philosoph Thomas Fuchs vertritt. Demnach ist der Körper (Fuchs spricht vom »Leib«) integraler Bestandteil bewusster Prozesse. Dem gegenüber stehen, drittens, »externalistische« Sichtweisen wie die Spread-Mind-Theorie. Ihr zufolge bedarf Bewusstsein zwar ebenfalls (warum auch immer!) eines Hirns – entscheidend sei allerdings die Identität von innerer und äußerer Welt, Objekt und Bewusstsein.

Kein Raum für andere Meinungen

Das provoziert viele Gegenargumente. Als einziges nennt Parks selbst das Problem bewusster Trauminhalte, die augenscheinlich ohne externe Welt auskommen. Der Autor erklärt sie kurzerhand zu »verzögerten Wahrnehmungen«, da in Träumen nichts zu Tage träte, was nicht schon (potenziell) wahrgenommen worden sei.

Allerdings kann man noch viel mehr gegen die Spread-Mind-Idee ins Feld führen. Halluzinationen etwa, Täuschungen, systematische Verzerrungen oder schlicht die Tatsache der Objektpermanenz: Ein weißes Blatt Papier erscheint uns stets weiß, selbst wenn es röteres Licht reflektiert als ein reifer Apfel. Hier klaffen objektive Fakten und subjektives Erleben weit auseinander, was darauf hindeutet, dass unsere Wahrnehmungen (ebenso wie Erinnerungen) vom Gehirn konstruierte geistige Zustände darstellen.

Wie der Autor ausführt, reizen ihn am Spread-Mind-Gedanken vor allem zwei Dinge: Querdenkertum und der Wunsch, der eigenen Wahrnehmung zu trauen. Der 61-jährige Parks trennte sich von Frau und Kindern, um mit einer kaum halb so alten neuen Partnerin zusammenzuleben. Das stieß, wie er freimütig bekennt, auf viele Vorurteile seitens der Mainstream-Gesellschaft. In Analogie dazu scheint ihm die ebenfalls kaum mainstreamtaugliche Spread-Mind-Idee das eigene Schicksal zu spiegeln.

Zu anderen wurmt es Parks, dass Wissenschaftler das Narrativ vom Gehirn als Illusionsmaschine verbreiten: Was wir erlebten, sei nichts weiter als ein Schwindel, eine schöne Geschichte, die uns unsere grauen Zellen auftischen. »Sollen wir unserer Erfahrung, wie wir sie kennen und erleben, vertrauen?«, fragt Parks. »Darauf vertrauen, dass sie ein reales Etwas ist? Dass sie von Bedeutung ist? Substanz hat? Oder glauben wir lieber an Messwerte und Zahlen (…), was objektivierbar und beweisbar ist?«

Der Romancier versteigt sich zu der These, wer die Realität subjektiver Erfahrung bezweifle, ebne Populisten und Manipulatoren den Weg, die uns erklären, was wir stattdessen für real halten sollen. Doch sind jene, die ihr persönliches Erleben zur Realität erheben, nicht ebenso gefährlich? Man kann seine private Wahrnehmung durchaus real finden – nur ist sie eben Wahrnehmung, keine Wahrheit.

Kritische Distanz zur eigenen Sicht der Dinge ist Parks' Sache nicht. Sein Grundproblem liegt darin, dass er Wissenschaft missversteht – wie es bereits die Frage nach der »neuen Religion« suggeriert. Sicherlich wird der Nimbus der Wahrheit durchaus missbraucht: Aus Streben nach Prestige, Profit oder Aufmerksamkeit gibt sich so mancher einen objektiven Anstrich. Doch im Kern ist Wissenschaft der Versuch, Erklärungen zu finden, die jenseits individueller Interessen eine verallgemeinerbare, rationale Basis haben.

Warum spricht Parks nicht etwa von der Spread Mind-Lehre oder der Spread-Mind-Religion? Weil das nach Dogma und Wunschdenken klingt. Forschung bedeutet nicht, Theorien in die Welt zu setzen, für deren Richtigkeit und Geltung man dann kämpft. Es bedeutet, möglichst sparsame, überprüfbare Antworten auf sinnvolle Fragen zu geben und diese immer wieder auf die Probe zu stellen. Parks geht es um Gewissheit und Identifikation – das ist nicht verboten, jeder darf sich mit seiner persönlichen Wahrnehmung so sehr identifizieren, wie er mag. Nur ist das eben keine Wissenschaft.

Geringer Zuspruch als Zeichen von Genialität?

Bis heute weiß niemand, wie »feuernde« Neurone bewusstes Erleben hervorbringen. Das allein ist allerdings noch kein Beleg für irgendeine andere These. Und die Tatsache, dass eine Theorie radikal anders ist und wenige Anhänger hat, bedeutet nicht, dass eine geniale, leider verkannte Erkenntnis darin schlummert. Radikal anders ist oft einfach nur radikal unplausibel.

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