»Bis zur Unendlichkeit und noch viel weiter«: Unverständliche Unendlichkeit
Ein Buch, das einen auf »kosmische Entdeckungsreise« ins Universum mitnimmt, klingt nicht nach einer besonders neuen Idee. Aber ein bekannter Wissenschaftskommunikator als Autor, ein paradoxer Titel und die hübsche Aufmachung versprechen unterhaltsame und lehrreiche Stunden. Auf welchem Weg werden die Leser also hier zur Unendlichkeit geführt?
Der Autor Neil deGrasse Tyson dürfte in den USA der bekannteste Wissenschaftsjournalist sein. Neben seinen Sachbüchern ist er durch Radioshows und vor allem durch Fernsehsendungen präsent. Er ist Astrophysiker und Meister des anschaulichen Erklärens. Die Co-Autorin Lindsey Nyx Walker war unter anderem auch »Story Producer« der von deGrasse Tyson moderierten Wissenschaftssendung »StarTalk«, die auf dem TV-Kanal des »National Geographic« lief.
Ihr Buch unterteilt sich in vier etwa gleich lange Teile. Der erste ist eine Mischung aus Geschichte und Physik der Raumfahrt. Im zweiten Teil werden die einzelnen Körper des Sonnensystems vorgestellt. Der dritte Teil konzentriert sich auf die Beobachtung von Exoplaneten, erklärt die dazu eingesetzte Technik – und fabuliert am Ende über interstellare Reisen. Der vierte schließlich ist eine Einführung in die Kosmologie.
Diese Gewichtung ist etwas ungewöhnlich, widmet sich doch die komplette erste Hälfte des Buchs der Raumfahrt. Das ist inhaltlich spannend und dürfte nicht zuletzt den Geschmack der amerikanischen Leserschaft treffen. Auf dem Weg zur Unendlichkeit ist das Sonnensystem aber nur ein sehr kleiner Schritt. Zwar sind die Planeten für menschliche Maßstäbe unerreichbar weit weg, aber verglichen mit der Größe des Universums doch sehr nah. Und auch die (prinzipiellen) Möglichkeiten, die anderen Sternsysteme zu erreichen, die im dritten Teil im Abschnitt ›Weltraumpilger‹ diskutiert werden, würden einen kosmisch gesehen nur ein Milliardstel der Strecke bis zur Grenze des sichtbaren Universums weit bringen. Der Buchtitel ist also irreführend.
Weltraumaufzüge und Asteroiden
Wenn man das aber ignoriert, kann man sich über den wirklich gut erklärenden, abwechslungsreichen Text freuen, der mit sehr vielen anschaulichen Beispielen arbeitet. Hier merkt man, dass Profis am Werk sind. Ein besonders gelungener Abschnitt behandelt etwa, wie Raumschiffe überhaupt in den Weltraum gelangen, inklusive Raketengleichung und Weltraumaufzügen. Auch aktuelle Themen haben Eingang gefunden: So beschreiben die Autoren, welche Möglichkeiten man hätte, eine Kollision mit einem erdnahen Asteroiden abzuwenden; oder welche Signaturen Leben auf anderen Planeten in den Atmosphären (und damit in den beobachtbaren Spektren) hinterließe. Und zahlreiche kuriose Anekdoten bereichern die Lektüre –wissen Sie, welchen Geruch Astronauten wahrnehmen?
So weit, so gut – zumindest in den ersten drei Teilen. Im vierten Teil geht dann nämlich eine Menge schief. Die Einführung in die Relativitätstheorie bleibt ziemlich stümperhaft. Wortreich, aber unverständlich wird die Zeitdilatation bewegter Uhren erklärt – doch eine Skizze, die den Sachverhalt veranschaulichen würde, fehlt. Platz wäre gewesen, denn es gibt dafür viele dekorative Fotos, die allerdings keinen echten Erklärungswert besitzen.
Ich befürchte, dass das Buch in diesen Passagen für die meisten Leser unverständlich bleibt. Anstatt die zugrunde liegende Physik solide zu erklären, diskutieren die Autoren gleich drei mögliche Mechanismen für Zeitreisen in die Vergangenheit. Allein angesichts der Menge an Text, die sich diesem Thema widmet, könnten Leser annehmen, dass Zeitreisen wohl möglich sind. Die Kausalitätsprobleme bei derartigen hypothetischen Ausflügen werden erst am Ende diskutiert – mit vereinfachten Raumzeitdiagrammen und Weltlinien, die aber den Kern des Problems nicht erfassen. Dazu kommen noch handwerkliche Fehler; so wird der Lichtkegel mit einem Öffnungswinkel von rund 70° gezeichnet, aber im Text als »45°« quantifiziert. Ebenso strauchelt der Text bei der Erklärung des Doppelspaltexperiments, das am Anfang der Quantenphysik steht. Dieser vierte Teil ruiniert leider den Gesamteindruck des Buches.
Und die Leser müssen so manchen Kalauer verdauen. Die Autoren zitieren beispielsweise den berühmten Vergleich einer Partyeinladung mit den Raumzeitkoordinaten: Die Einladung muss beantworten, in welchem Haus, in welchem Stockwerk und wann die Party stattfindet – entsprechend den vier Raumzeitkoordinaten. In etwas plumpem Humor fügen die Autoren hinzu, dass man viertens auch wissen müsse, wie der DJ sei. Mit einem Seufzen kann man wohl darüber hinweglesen und hoffen, dass zumindest ein amerikanisches Fernsehpublikum dergleichen goutiert und sich an den Vorzügen der ersten drei Teile des Buchs erfreuen.
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