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Sozialer Kitt

Welche Grundeigenschaften des Menschen vermitteln sozialen Zusammenhalt? Ein Soziologe sucht nach Antworten.

Es war eine katastrophale Notsituation, als die »Julia Ann« am 7. September 1855 vor Tahiti auf ein Riff lief. Fünf von 60 Besatzungsmitgliedern kamen ums Leben, der Rest strandete für zwei Monate auf einer Insel. Schließlich entschloss sich der Kapitän, mit neun Mannschaftsmitgliedern 350 Kilometer weit zum Atoll Bora Bora zu rudern, um Hilfe zu holen. Diese uneigennützige und risikoreiche Tat rettete letztlich allen Gestrandeten das Leben.

Doch nicht jeder Schiffbruch der Seefahrtgeschichte ging derart glimpflich aus. In vielen dieser Fälle war sich jeder selbst der Nächste, kam die Rettung spät oder nie. Ausgewertete Beispiele geborgener Besatzungen zwischen 1500 und 1900 zeigen große Unterschiede im sozialen Zusammenhalt: Manche Gemeinschaften brachen völlig zusammen, es kam zu Gewalt, Mord und sogar Kannibalismus. Andere waren erfolgreicher und hatten eine höhere Überlebensrate.

Gemeinsamer evolutionärer Ursprung

Der Soziologe Nicholas Christakis, Autor dieses Buchs, leitet das Human Nature Lab der Yale University (USA). Die Grundlage für stabile Gemeinschaften sieht er in bestimmten menschlichen Universalien (Elementen des Verhaltens, die kulturunabhängig sind). Schon frühere Autoren haben nach solchen Universalien gesucht, doch Christakis kritisiert an diesen eine subjektive Vorgehensweise und bemängelt, man habe sich seitens der Wissenschaft zu lange auf Punkte wie Gewalt oder Egoismus konzentriert. Auch beanstandet er, dass bislang eher die Unterschiede zwischen den Menschen im Fokus standen als die für den Aufbau und die Stabilität einer Gruppe notwendigen Gemeinsamkeiten.

Zu menschlichen Universalien gehören für den Autor das Bewusstsein einer eigenen Identität und die Fähigkeit, die Identität anderer zu erkennen; die Liebe gegenüber Partnern und Kindern und die Fähigkeit, Freundschaften zu schließen. Er argumentiert, diese Merkmale träten nachweislich nicht nur in heutigen und historischen menschlichen Gemeinschaften auf, sondern auch im Tierreich, etwa bei Elefanten oder Schimpansen – was für einen gemeinsamen evolutionären Ursprung spreche. Auch die Fähigkeit zum Knüpfen sozialer Netze und zur Kooperationen mit anderen, die Begünstigung der eigenen Gruppe, das Streben nach flachen Hierarchien sowie das Vermögen zum sozialen Lernen und Lehren zählt Christakis zu den Universalien hinzu.

Der Autor argumentiert, diese Merkmale lägen im evolutionär entstandenen genetischen Erbe begründet. Menschliche Gesellschaften würden sowohl durch die Umweltbedingungen als auch den individuellen Spielraum, den die genetische Veranlagung lasse, geprägt. Im Rahmen einer (kultur)evolutionären Selektion habe dies zur einer Begünstigung bestimmter Erbanlagen geführt, die für soziokulturelle Merkmale von Bedeutung sind.

Allerdings liegt für Christakis kein strikter genetischer Determinismus vor – der Mensch kann seiner Ansicht nach innerhalb gewisser Grenzen selbstbestimmt agieren. Doch Gesellschaften ohne persönliche Identitäten, Freundschaften oder Kooperationen würden rasch zerbrechen. Konstruiert man daher aus den acht Universalien, die der Autor nennt, ein achtdimensionales Koordinatensystem, ist seiner Meinung nach der Bereich funktionierender menschlicher Gesellschaften auf einen relativ kleinen Bereich innerhalb dieses Systems beschränkt.

Christakis belegt seine Argumentation anhand vieler Beispiele aus soziologischen und biologischen Untersuchungen. Freundschaften und soziale Beziehungen im Tierreich kommen dabei ebenso zur Sprache wie mehr oder weniger erfolgreiche Zufallsgemeinschaften von Schiffbrüchigen, indigene Bevölkerungsgruppen, Gemeinschaftsformen wie Kommunen oder neuzeitliche Ideen wie der Gesellschaftsvertrag nach Thomas Hobbes oder John Locke.

Vieles an dem Buch ist nicht neu und zeigt Überschneidungen mit anderen soziobiologischen Untersuchungen. Ebenso entbehrt Christakis’ Universalienauswahl sicher auch nicht einer gewissen Subjektivität. Dennoch hat der Autor eine spannende und gut lesbare soziobiologische Abhandlung über die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens vorgelegt. Sie eignet sich für Leser, die an einer einschlägigen Überblicksdarstellung interessiert sind.

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