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Bruderkrieg

Vor 500 Jahren eroberten spanische Konquistadoren das Reich der Azteken. Ohne Hilfe einheimischer Kräfte wäre ihnen das kaum gelungen.

Im März 1519 betrat der spanische Konquistador Hernán Cortés mit einer Truppe von wenigen hundert Mann erstmals das amerikanische Festland. Rund zwei Jahre später lag Tenochtitlan, die Haupstadt des Aztekenreichs, in Trümmern und die Spanier hatten das Fundament für ein Kolonialreich gelegt, das Jahrhunderte überdauern sollte. Was genau innerhalb dieser kurzen Zeit in Mexiko passierte, ist nebulös. Zwar liegen schon aus dem 16. Jahrhundert nicht wenige Quellenberichte darüber vor; Cortés selbst unterrichtete die Krone ausgiebig. Doch sowohl Augenzeugen als auch Chronisten konstruierten dabei nicht selten ihre eigenen Wahrheiten – sei es aus politischen Interessen heraus oder einfach, um die Geschehnisse schlüssig verbunden darzustellen.

Diese »Inszenierungsleistungen« hinterfragt der Historiker Stefan Rinke in seinem Buch »Conquistadoren und Azteken« und bezieht dabei auch die wenigen Zeugnisse ein, welche die Perspektive der indigenen Bevölkerung widerspiegeln. Er legt frei, was wir wirklich über den Fall Tenochtitlans wissen, und macht auf diese Weise deutlich, wie spannend wissenschaftliche Quellenkunde sein kann. Der Autor, der als Professor für Geschichte Lateinamerikas an der Freien Universität Berlin lehrt und hierzulande zu den profiliertesten Kennern der Materie zählt, stellt die Motive, Perspektiven und Hintergründe der einzelnen Akteure differenziert heraus und räumt ganz nebenbei mit Mythen auf, die sich bis heute um die Eroberung Amerikas ranken. Rinke schildert nicht nur die Eroberungszüge, sondern erklärt, wer sich da eigentlich begegnete und aus welcher Ausgangssituation heraus.

Sklavenjagd statt Frohe Botschaft

Auf der einen Seite standen vor allem junge Spanier aus niederem Adel – so genannte Hidalgos –, die sich von einem Engagement in der »Neuen Welt« sowohl Reichtümer als auch Karrierechancen erhofften. Die Verbreitung des christlichen Glaubens (die offiziell zur Begründung der Eroberungszüge diente) hatten sie dabei weniger im Sinn, eher konzentrierten sie sich auf die Jagd nach Sklaven. Dem Autor gelingt es konzise und eindrücklich, Cortés' Biografie und zugleich die damalige politische Landkarte nachzuzeichnen. Zudem fängt er nicht nur die Gier der Konquistadoren nach Gold ein, sondern auch ihr Staunen über das Unbekannte.

Auf der anderen Seite war das prosperierende Reich der »Mexica« – so der Eigenname der Azteken. Im Lauf des 15. Jahrhunderts hatte dieses ursprünglich aus dem Norden stammende Volk seine Einflusssphäre durch kriegerische Expansion deutlich vergrößert. Rinke beschreibt gut verständlich, wie die Gesellschaft, Wirtschaft und Religion der Mexica funktionierten. Er fächert das Mächteverhältnis in der Region auf und bietet den Lesern somit eine perfekte Grundlage, um die Dimensionen des 1519 entstehenden Konflikts nachvollziehen zu können.

Denn es waren eben nicht nur ein paar verwegene Glücksritter vom anderen Ende der Welt, die Mittelamerika auf einen Schlag neu ordneten, weil sie über bessere Waffen und Pferde verfügten und von ihren Gegnern für Götter gehalten wurden. Vielmehr sahen die Feinde Tenochtitlans im Zweckbündnis mit den Neuankömmlingen die Chance, sich von der Herrschaft der Mexica und deren Tributforderungen zu befreien und einen lange währenden Konflikt militärisch zu lösen. Sie unterstützten die Spanier mit Lebensmitteln, vor allem aber mit Truppen. Während der Kämpfe standen sich zehntausende einheimische Krieger gegenüber – die Konquistadoren machten numerisch nur einen kleinen Teil davon aus. Sie hatten zwar durch ihre überlegene Bewaffnung einen größeren Einfluss, doch ohne die Hilfe etwa der Tlaxcalteken und anderer Verbündeter wären sie vermutlich untergegangen. Cortés siegte vor allem dadurch, dass er die verschiedenen einheimischen Mächte für seine Interessen einspannte, lenkte und gegeneinander ausspielte.

Zudem brachten die Spanier einen unsichtbaren Feind mit, der unter den mesoamerikanischen Völkern einen schrecklichen Tribut forderte: die Pocken. Berechnungen von Historikern zufolge starben nach dem Ausbruch einer Epidemie im Jahr 1520 binnen zwölf Monaten etwa 40 Prozent der Einwohner Zentralmexikos. Weitere Seuchenwellen folgten. Nicht zuletzt diese demografische Katastrophe machte es möglich, dass die Konquistadoren nicht nur das Reich der Mexica zerstörten, sondern schließlich die Vorherrschaft in der gesamten Region übernahmen.

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