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Chronik einer Pandemie

Als Tagebuch des zurückliegenden halben Jahres rollt dieses Werk auf, wie Sars-CoV-2 von Kontinent zu Kontinent sprang.

Wir leben in aufgeregten und ereignisreichen Zeiten, seit Covid-19 die Welt in Atem hält. Täglich überfluten uns die Nachrichten, wir spüren, wie das Leben sich in Lockdowns und Shutdowns anfüllt, und ahnen erst allmählich, wie sich die Welt verändern wird. Diskussionen über die Zukunft nehmen zu, ohne dass die Gegenwart bewältigt wäre.

Wie viel tatsächlich in den zurückliegenden fünf, sechs Monaten geschehen ist, macht ein Buch augenfällig, das vor wenigen Tagen erschienen ist »Corona – Geschichte eines angekündigten Sterbens«. Mag der Titel werbeträchtig an einen Roman des kolumbianischen Literatur-Nobelpreisträgers Gabriel García Márquez anspielen, »Chronik eines angekündigten Todes«, hat er mit diesem Werk nichts gemein. Dennoch ist die Machart des Buchs manchem modernen Thriller abgeschaut: Die parallele Erzählung gleichzeitig stattfindender Ereignisse.

Auf der Spur des Erregers

Gleichsam als Tagebuch der Weltereignisse schildern die Autoren anhand von veröffentlichten Dokumenten, Zeitungsberichten, Fernsehnachrichten, Gesprächen, Blogs, wissenschaftlichen Publikationen sowie persönlichen Geschichten von Ärzten, Pflegern und Patienten, was sich Tag für Tag seit dem 30. Dezember 2019 getan hat – beginnend im chinesischen Wuhan und weltweit ausgreifend bis zum letzten Eintrag am 24. Mai 2020. Das Buch springt wie das Virus von Ort zu Ort, von Kontinent zu Kontinent und folgt so dem Weg des Erregers und den Erkenntnissen, die Forscher über ihn und die von ihm verursachte Krankheit gewannen. Zudem schildern die Autoren verschiedene Maßnahmen, die unterschiedliche Länder gegen die Pandemie ergriffen haben. Dabei zeigt sich, wo schnell und gut reagiert worden ist, wo Politiker zunächst gezögert haben oder verunsichert waren, wo unterschiedliche Taktiken und Strategien ausprobiert wurden und welche Versäumnisse welche Folgen zeitigten. Zugleich offenbart das Buch die Möglichkeiten und Grenzen unterschiedlicher politischer Systeme und persönlicher Interessen, wie auch die Wirkmacht von Korruption, Erpressung und Faktenunterdrückung. Ziel des Bands ist, aus »Bürgern wissende Staatsbürger zu machen, die so viel Wissen haben, dass sie ein Leben mit dem Virus hinbekommen«, schreiben die Autoren im Vorwort.

Das Buch unterteilt sich in vier große Kapitel, die Phasen der Pandemie benennen: die chinesische, die italienische, die amerikanische und die brasilianische Phase. Allerdings bedeutet diese Gliederung nicht, dass sich jeweils auch der Fokus der Berichte auf diese Länder legt. Das Werk bleibt seinem Plan durchweg treu: in kurzen Einträgen von manchmal nur wenigen Zeilen, manchmal auch zwei oder drei Seiten die tägliche Ausbreitung des Erregers an immer mehr Orten der Welt zu dokumentieren. In der Menge des verarbeiteten Materials fallen nur wenige Gewährspersonen besonders auf. Der Berliner Biochemiker und Unternehmer Olfert Landt, der die ersten Testkits zusammen mit Christian Drosten entwickelte und weltweit vertrieb; Tomas Pueyo, ein Ingenieur aus Kalifornien, der in seinem Blog die Begriffe »Hammer und Tanz« kreierte (gemeint sind der rasche Shutdown beziehungsweise der allmähliche Lernprozess, mit dem Virus umzugehen), die rund um den Globus bis in Regierungskommuniqués Eingang fanden; und das Tagebuch von Yu Liping, Pseudonym einer jungen chinesischen Journalistin, die unmittelbar nach ersten Berichten aus Peking zu ihren Eltern nach Wuhan reiste, dort festsaß und täglich ihre Beobachtungen aufschrieb.

Wer die einzelnen Abschnitte jeweils verfasst hat, ist nicht aufgeführt. Koordiniert haben das Ganze die beiden Journalisten Cordt Schnibben und David Schraven; weitere 18 Autoren wirkten mit, darunter Wissenschaftsjournalisten, Redakteure, Investigativjournalisten, Wissenschaftler, zudem ein siebenköpfiges Team für den Faktencheck und etliche mehr. Ferner griffen die Buchmacher auf zahlreiche Quellen zu, aus denen sie die O-Töne von Ärzten, Pflegern und Patienten zusammengestellt haben.

Dennoch enthält das Buch auffällige Leerstellen. Es streift die Ereignisse meist nur, ohne in die Tiefe zu gehen. Der wissenschaftliche Streit um die Methodik der Drosten-Studie und Ansteckung von Kindern wird ebenso en passant erwähnt wie die PR der Heinsberg-Studie. Man merkt dem Werk an, dass es in kurzer Zeit entstanden ist. Es gibt wortgleiche Passagen an mehreren verschiedenen Stellen, auch fehlen hier und da Zeichen – eine Aufgabe für das Lektorat einer zweiten Auflage.

Das geschickt zusammengestellte und umfangreiche Material erlaubt es allen Lesern, sich selbst ein kritisches und kompetentes Urteil zu bilden. Dabei ist freilich zu bedenken: Ob die Entscheidungen der Handelnden richtig oder falsch waren, ist im Nachhinein viel leichter zu bewerten als zum Zeitpunkt des Handelns. Hinterher ist man immer schlauer.

So auch nach der Lektüre des Buchs. Es breitet auf 360 Seiten kompetent zusammengestelltes Material aus, enthält am Ende jedes Abschnitts einen kurzen Überblick über das, was bis zum jeweiligen Zeitpunkt an gesichertem Wissen vorhanden war, bewertet zum Schluss die 16 größten Corona-Mythen und enthält zudem ein Glossar mit den wichtigsten Begriffen. Leserinnen und Leser bekommen mit dem Band einen zuverlässigen Überblick über das letzte halbe Jahr – gleichsam den Zwischenbericht zu einer noch längst nicht überwundenen Geschichte.

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