Direkt zum Inhalt

Psychosomatik durch die subjektive Brille

Über das Zusammenspiel von Psyche und Körper berichtet der Mediziner Alexander Kugelstadt in seinem Sachbuch.

»Dann ist das wohl psychosomatisch!« Diesen Satz dürfte der eine oder andere Patient bereits gehört haben, der sich etwa mit Rückenschmerzen beim Arzt vorgestellt hat. Denn oft findet sich für körperliche Beschwerden keine Ursache. Dann beginnt die Arbeit von Alexander Kugelstadt, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Autor des Buchs mit diesem Titel.

Im ersten Teil versucht Kugelstadt, die Grundlagen seines Fachs zu vermitteln, etwa die Bedeutung von früheren Erfahrungen (im Mutterleib und in den ersten Lebensjahren) für die psychische Vulnerabilität beziehungsweise Resilienz, den Einfluss von Gefühlen und die Wechselwirkung zwischen Körper und Seele. Dabei rezipiert der Autor Sigmund Freuds Konversionstheorie unkritisch, wonach verdrängte Gefühle in ein körperliches Symptom umgewandelt werden – obwohl diese Sichtweise in der modernen Psychosomatik veraltet ist. Zugleich erwähnt er aber auch neuere Erkenntnisse aus der Neurobiologie und Entwicklungspsychologie.

Anschließend beschreibt der Mediziner Kopf- und Rückenschmerzen, Haareausreißen, Essstörungen, Depressionen, kardiologische Krankheiten wie Hypertonie, Traumafolgestörungen und Hautkrankheiten wie die Neurodermitis. Die Depression bezeichnet er als »die typische psychosomatische Erkrankung«, weil sie Seele und Körper betreffe. Seine Auswahl an Krankheitsbildern begründet der Autor nicht, sie wirkt willkürlich. Möglicherweise begegnen ihm diese Beschwerden in seiner Praxis besonders häufig. Doch man fragt sich als Leser, ob es ein klar abgegrenztes Spektrum an psychosomatischen Krankheiten gibt? Warum erwähnt er zum Beispiel Tinnitus und Hörstürze nicht, wohl aber das Haareausreißen sowie Ess- und Traumafolgestörungen?

Heute weiß man, dass Psyche und Körper im Grunde bei allen Erkrankungen zusammenspielen. Wer wir sind und was wir erlebt haben, hat also häufig einen Einfluss darauf, ob organische Erkrankungen ausbrechen und wie sie verlaufen. Ebenso wirken sich körperliche Krankheiten wie etwa Parkinson auf die Psyche aus. Eine klare Trennung in rein psychisch, rein somatisch oder psychosomatisch ist daher meist nicht möglich.

Tipps gegen die »Psychosomatik-Falle«

Der Autor plädiert dafür, körperliche und seelische Phänomene gleich ernst zu nehmen. Zudem gibt er viele Hinweise, damit die Leserinnen und Leser nicht in die vom ihm so bezeichnete Psychosomatik-Falle tappen. So sollte man zum Beispiel bei Antriebsdefiziten auch stets eine möglicherweise zu Grunde liegende Schilddrüsenunterfunktion abklären lassen.

Des Weiteren macht er Vorschläge, wie man die eigene Gesundheit fördern kann, etwa durch Selbstfürsorge, Bewegung und Sport. Das meiste davon ist altbekannt. Interessant sind dagegen persönliche Anekdoten, etwa wenn er erzählt, wie er ein Hobby seiner Kindheit vor ein paar Jahren wieder aufgegriffen oder was er eines Abends nach der Arbeit an diesem Buch in sein Dankbarkeitstagebuch notiert hat.

Im letzten Teil schildert der Autor, wie man sich eine psychosomatische Behandlung vorstellen kann. Da ihr Herzstück seiner Darstellung nach eine Psychotherapie ist, stellt sich die Frage, wie sich die Arbeit eines Facharztes für Psychosomatische Medizin von der eines Ärztlichen oder Psychologischen Psychotherapeuten unterscheidet? Das beantwortet er leider nicht.

Konkurrenzkampf der Therapierichtungen

Schade ist auch, dass der Psychosomatiker seine Disziplin nur durch seine eigene »Brille« betrachtet. Er hat eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapieausbildung absolviert – und hält in seinem Buch eine Apologie für diese Therapierichtung. Die Verhaltenstherapie kommt dagegen vergleichsweise schlecht weg und wird klischeehaft skizziert, etwa wenn er teils verwendete Therapiemanuale und Aktivitätenlisten kritisiert. Obwohl er selbst schreibt, »die moderne psychosomatische Medizin wird ohnehin methodenübergreifend gedacht«, hält ihn das nicht davon ab, die Tiefenpsychologie in den Vordergrund zu rücken. Darüber hinaus bezieht sich der Autor nicht explizit auf psychologische Forschung, die doch eine wichtige Grundlage der Psychosomatik darstellt, etwa Forschung zu Gedächtnis, Emotionen, Persönlichkeit, Psychokardiologie und die Vererbung von Traumata in Form von transgenerationalen Übertragungen.

Das auf dem Einband gegebene Versprechen, »Alles zur Psychosomatischen Medizin« zu liefern, kann Kugelstadt allein deshalb nicht einlösen. Wer sich tiefer mit der Materie beschäftigen möchte, dem sei das 2020 bei Kohlhammer erschienene Lehr- und Handbuch »Psychosomatik« empfohlen. Als Einstieg in das Thema Psychosomatik eignet sich »Dann ist das wohl psychosomatisch!« aber dennoch.

Kennen Sie schon …

Gehirn&Geist – Verbrechen: Die Psychologie des Bösen

Warum faszinieren wahre Verbrechen? True Crime ist ein Spiegel unserer psychologischen Neugier: Was macht Menschen zu Tätern – und wie gelingt es Ermittlern, die Wahrheit ans Licht zu bringen? In dieser Ausgabe geht es um die Kräfte, die Menschen in den Abgrund treiben oder zurückholen. Wir zeigen, warum Rache selten Frieden bringt, wie gefährliche Häftlinge in Sicherungsverwahrung leben, was das Stockholm-Syndrom über Überlebensstrategien verrät und mehr.

Sterne und Weltraum – Raumzeit: Experimente zur Quantennatur

Die Relativitätstheorie Albert Einsteins ist das Meisterwerk zur Beschreibung der Schwerkraft. Seit Jahrzehnten steht aber die Frage im Raum, ob die Gravitation auf submikroskopischen Längenskalen modifiziert werden muss. Gibt es quantenhafte Austauschteilchen, die Gravitonen? In unserem Titelbeitrag stellen wir Überlegungen vor, wie man experimentell eine Quantennatur der Raumzeit testen könnte. Im zweiten Teil unseres Artikels zur Urknalltheorie beleuchten wir alternative Ansätze zur Dunklen Energie: das Local-Void- und das Timescape-Modell. Außerdem: Teil zwei unserer Praxistipps für die Astrofotografie mit dem Smartphone – Mond und Planeten im Fokus, die Ordnung im Chaos des Dreikörperproblems und woher stammen erdnahe Asteroiden?

Spektrum der Wissenschaft – Innerer Dialog – Wie Kopf und Körper miteinander kommunizieren

Über ein fein abgestimmtes System aus neuronalen Netzwerken via hormonelle Steuerung bis hin zu zellulären Dialogen stehen Kopf und Körper in ständigem Austausch. Denn wie in jeder funktionierenden Gesellschaft gilt auch hier: Ohne Kommunikation geht nichts. Dieser innere Austausch ist ebenso komplex wie der soziale – und er läuft rund um die Uhr, meist, ohne dass wir ihn bewusst wahrnehmen. Er spielt auch eine entscheidende Rolle für unsere Gesundheit.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.