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Entschämende Lektüre

Eine Ärztin für Haut- und Geschlechtskrankheiten nimmt körperbezogenen Tabus die Macht des Unaussprechlichen.

Weg mit den Körpertabus! So lautet das rigorose Motto dieses originellen Medizinratgebers. Und Autorin Yael Adler weiß genau, wovon sie spricht. Als Fachärztin für Haut-, Geschlechts- und Gefäßerkrankungen wird sie täglich mit allen nur denkbaren Tabuthemen konfrontiert. Und im Gegensatz zu ihren zumeist stark verunsicherten sowie hochnotpeinlich verschämten Patienten vermag sie sich als Medizinerin jeder noch so heiklen Tabuzone professionell anzunähern.

Ihr Buch solle ein Mutmacher sein, schreibt Adler: »Ich möchte Ihnen helfen zu verstehen, was in Ihrem Körper passiert, wenn Ihrer Vagina beim Sex ein Liebespups entfleucht, Ihr Magen nach dem Essen plötzlich mit Ihnen spricht oder wenn es mit der Erektion nicht mehr klappt wie bisher.« Um bestimmte Themen zu enttabuisieren, geht Adler bereits bei der Gestaltung des Einbands in die Offensive. Auf der Innenseite der vorderen Klappbroschur räkelt sich unter der Überschrift »No Body ist perfekt – auch nur ein Mensch!« ein liegender männlicher Akt. Pfeile um ihn herum weisen auf allerlei Scham- und Tabuzonen hin, darunter Mundgeruch, Achselschweiß, Ohrenschmalz, Pickel, Stielwarzen und Fußpilz. Ähnlich schonungslos auch die hintere Klappbroschur: Hier versammeln sich unter dem Motto »Herrliche und Frauliche Vielfalt – alles ganz normal!« die unterschiedlichsten Penis-, Brust- und Vaginaformen.

Vier Sinne

Was die Autorin da alles thematisiert, möchte manche(r) Leser(in) wohl gar nicht so genau wissen. Aber genau darum geht es: Nur wer sich traut, Tabuthemen mit entwaffnender Offen- und Lockerheit anzusprechen, nimmt dem Verborgenen und Unverstandenen die Macht. Adlers Enttabuisierungsstrategie umfasst vier Teile: Riechen, Fühlen, Sehen und Hören.

Im ersten Teil, der sich mit Körpergerüchen befasst, lassen schon die Zwischentitel keinen Zweifel daran, worum es geht: »Hinter vorgehaltener Hand«, »Uups, ein Pups« oder »Markante Düfte aus der Tiefgarage«. Auch bei Fragen rund ums Fühlen mangelt es nicht an handfestem Medizinerhumor: »Kleiner Freund, was nun« etwa informiert über Erektionsstörungen. Kapitel wie »Schnapp, ab: Beschneidung« sowie das »Kleine Hoden-Ei-Mal-Ei« runden die Ausführungen speziell zu Männern ab. Weitere Themen sind der weibliche Orgasmus, Fragen der Verhütung, Monatsblutungen sowie die Menopause. Im Kapitel »Ich will doch nur spielen« kommen bizarrste Sexspielzeuge und Sexunfälle zur Sprache. Ausführlich geht die Autorin unter »Von Kopf bis Fuß mit Liebe infiziert« auf diverse Geschlechtskrankheiten ein. Das Schlusskapitel »Echt am Arsch« gewährt dann noch einen tieferen Blick in die Freuden und Leiden des Anus.

Der dritte Teil widmet sich sichtbaren menschlichen »Makeln«. Dort referiert Adler über Nagelpilz und Haarausfall, Warzen, Leberflecke und Blutschwämmchen. Auch altersbedingte Veränderungen, die von Hormontherapien und Depressionen begleitet sein können, spart sie nicht aus. Das Schlusskapitel in diesem Teil plädiert überzeugend gegen »Körperoptimierung« wie Gesichtsstraffung, Implantate und Piercings. Der finale vierte Teil namens »Melodien für Millionen oder warum wir auf unseren Körper hören sollten« ist zugleich der kürzeste. Ob es nun um nächtliches Schnarchen und Sabbern geht oder hernach von Erbrechen, Schmatzen und anderen Körpergeräuschen die Rede ist, Adler hat stets weitaus mehr zu bieten als lediglich witzige Formulierungen. Neben exakten Beschreibungen und verblüffenden Details sorgen vor allem ihre hilfreichen Ratschläge für eine erbauliche Lektüre.

Adlers vehementes Werben für mehr Offenheit im Hinblick auf Körpertabus dürfte vielen aus der Seele sprechen. Denn es bedeutet eine höhere Lebensqualität, der eigenen Körperlichkeit nebst deren altersbedingtem Wandel mit wacherem Interesse, größerer Selbstverständlichkeit und Gelassenheit zu begegnen. Den Rat der Autorin, doch nun bitte schön ebenso frei und ausgelassen im eigenen Umfeld als Tabubrecher zu wirken, sollte man allerdings lieber mit Vorsicht genießen.

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